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10:30 Uhr - 04.07.2014

Das Modigliani-Miller-Theorem

Franco Modigliani und Merton H. Miller haben die Corporate Finance mit ihrer ökonomischen Analyse neu definiert. Mit ihrem Irrelevanztheorem zu Kapitalstruktur und Unternehmenswert stellen sie Praktiker vor ein Rätsel.

Kann ein Unternehmen seinen Wert steigern, wenn es Investitionen mit Schulden statt mit Aktienkapital finanziert? Hat die Dividendenpolitik einen Einfluss auf die Rendite der Aktie?

Berühmte Theoreme
Dies ist die siebte Folge einer neuen FuW-Serie: «Finanz und Wirtschaft» stellt populäre ökonomische Gesetze und Formeln vor – in welchem Kontext sie entstanden sind, welche Bedeutung ihnen heute noch zukommt und welche Köpfe dahinterstecken. Bereits erschienen sind «Die Laffer-Kurve», «Die Phillips-Kurve», «Die Quantitätstheorie des Geldes», «Die Kaufkraftparität (PPP)», «Die Taylor-Regel» und «Das Okunsche Gesetz». Nächstes Mal wird die Random-Walk-Hypothese präsentiert.
Noch heute würden die meisten Anleger den Kopf schütteln, wenn jemand auf beides antwortete: Überhaupt nicht. Und doch ist längst bewiesen, dass diese Antwort – unter bestimmten Annahmen – stimmt.

1958 kamen die späteren Nobelpreisträger Franco Modigliani und Merton H. Miller in «The Cost of Capital, Corporation Finance and the Theory of Investment» genau zu diesem Schluss. Der Aufsatz ist mit seinen drei Propositionen die Gründungsurkunde des Miller-Modigliani-Theorems (MM).

Phantom Kapitaloptimierung

Das Theorem ist ein Meilenstein der Corporate Finance, der bis heute quer in der Geschäftslandschaft steht. Kritisiert oder ignoriert, jedenfalls unumstösslich, hat dieser Monolith nichts von seiner Provokation für alle Praktiker in Investmentbanken und Finanzabteilungen eingebüsst, die tagtäglich genau das suchen, was das MM für ein Phantom hält: die optimale Finanzierungsform.

Seine Kernaussage in Proposition I besagt: Die Kapitalstruktur ist irrelevant für den Unternehmenswert. Dieser hängt nur vom Ertrag der Aktiven ab, nicht vom Mix der Passiven, mit denen die Investitionen finanziert wurden. Das heisst: Ein Unternehmen, das zusätzlich zum Eigenkapital (EK) Fremdkapital (FK) aufnimmt, bietet zwar ein weiteres Investitionsinstrument an, aber die Anleger gähnen nur: Sie können die Kapitalstruktur replizieren.

Beim Kauf von 1% eines Unternehmens mit Wert VU, das keine Schulden hat, sondern nur Eigenkapital (E), erhält der Investor 1% des Gewinns. Investiert er bei einem Unternehmen mit Wert VL, Schulden SL und Eigenkapital EL sowie dem gleichen operativen Gewinn sowohl in 1% des Eigenkapitals EL als auch in 1% der Schulden SL, erhält er zusätzlich 1% der Schuldzinsen, während sein Anteil von 1% am Gewinn um den gleichen Betrag, also 1% der Zinsen, sinkt. Sein Ertrag beträgt am Schluss gleich viel: 1% des gleichen Gewinns. Da zwei Investments mit gleichem Ertrag gleich viel wert sind, gilt VU = VL.
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Wären zwei Unternehmen mit gleichen Ertragsströmen nur wegen ihrer unterschiedlichen Kapitalstruktur anders bewertet, könnten Anleger das billigere kaufen und das höher bewertete nachbilden. Die Arbitrage würde den Marktwert der Unternehmen angleichen.

Als der Artikel 1958 erschien, waren seine Resultate derart konträr zur Praxis, dass die Autoren zu einer Analogie griffen, um die Idee hinter ihrem Irrelevanztheorem greifbarer zu machen: Ein Bauer kann seine Vollmilch entweder verkaufen, wie sie ist. Oder er schöpft den Rahm ab und verkauft den Rest als Magermilch. MM sagt nun: Wenn die Trennung von Rahm und Magermilch nichts kostet (und ohne Marktverzerrungen wie staatliche Milchsubventionen), wird er mit dem Verkauf der Vollmilch gleich viel verdienen wie mit billigerer Magermilch und teurerem Rahm. Auf die Finance übertragen: Erhöht ein Unternehmen die Menge an Fremdkapital (Rahm), verringert sich der Wert des Eigenkapitals (Milch). Indem ein Unternehmen  vermehrt sichereren und damit höherwertigen Cashflow den Obligationären überlässt, entwertet es ein Engagement der Aktionäre.

Und zwar – das ist der springende Punkt – um genau so viel, dass der Wert des Gesamtkapitals und damit des Unternehmens gleich bleibt.

Auch für MM erhöht Verschuldung die erwartete Rendite pro Aktie – da ertragsbringende Aktiva mit Schulden gekauft werden, die Anzahl Aktien aber gleich bleibt –, nicht aber den Aktienpreis. Denn  das Risiko des Aktionärs steigt, und damit die Verzinsung, die er verlangt – die Aktie ist ihm nur höher verzinst gleich viel wert. Er gewinnt durch Leverage (Verschuldung) nichts. Das sagt Proposition II: Der Kostensatz bzw. die erwartete Rendite des Eigenkapitals steigt und fällt linear mit dem Verschuldungsgrad FK⁄EK um die Differenz zwischen Gesamtkapitalkostensatz RG und Fremdkapitalkostensatz RFK.

REK = RG + (RG – RFK) × FK⁄EK.

Der Fremdkapitalkostensatz ist zunächst konstant bzw. gleich dem risikolosen Zins. Nach einem gewissen Verschuldungsgrad verlangen aber auch FK-Geber mehr, da das Risiko steigt, nicht mehr bedient zu werden. Und umgekehrt: Weniger Leverage senkt die Kosten von EK und FK.

Die Abbildung unten zeigt einen Ausschnitt aus dem berühmten Aufsatz von Franco Modigliani und Merton H. Miller «The Cost of Capital, Corporation Finance and the Theory of Investment» in «The American Economic Review» vom Juni 1958: Proposition I – die wichtigste Aussage darin – besagt, dass die Kapitalstruktur irrelevant ist für den Marktwert eines Unternehmens. Der Verschuldungsgrad hat zudem keinen Einfluss auf die durchschnittlichen Gesamtkapitalkosten. Daraus folgt Proposition II: Der erwartete Ertrag des Eigenkapitals ist eine lineare Funktion des Verhältnisses zwischen Fremd- und Eigenkapital. Ob Gewinne als Dividende ausgeschüttet werden, ändert daran nichts. Proposition III schliesst, dass Aktionäre indifferent sind gegenüber den Instrumenten, mit denen das Management die Investitionen finanziert.
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Es stimmt also allgemein nicht, was Banken heute gegen verschärfte Kapitalvorschriften geltend machen: dass mehr EK zu höheren Finanzierungskosten führt.

Proposition III zieht nur noch die Schlüsse aus dem bisher Gesagten: Die Art der Finanzierung einer Investition ist irrelevant für die Frage, ob sie sich lohnt. Die Investoren sind indifferent gegenüber der Finanzierungspolitik des Managements.

Im Schatten der Annahmen

Apropos Milchsubventionen: MM gilt nur unter Annahmen, die in der Wirklichkeit kaum je gegeben sind. Sie lassen sich in zwei Gruppen teilen: 1. Keine Verzerrungen der Marktpreise durch Steuern. Das heisst: keine Einkommens- und Gewinnsteuern (in der strikten Version), alle Kapitalformen werden steuerlich gleich behandelt. Schon diese Annahmen sind offensichtlich nicht erfüllt, die Abzugsfähigkeit von Schuldzinsen etwa ist historisch tief verwurzelt. 2. Die Kapitalmärkte sind friktionslos: keine Transaktionskosten, insbesondere keine Kosten von Insolvenz und Konkurs, keine asymmetrischen Informationen, Individuen und Unternehmen können zu den gleichen Bedingungen am Kapitalmarkt Geld aufnehmen.

Gerade diese letzte Bedingung, die für die Replikation von Kapitalstrukturen durch den einzelnen Investor entscheidend ist, erweist sich natürlich als realitätsfremd. Diese Kritik verfolgt MM wie ein Schatten.

Die Befunde von MM platzten in eine Zeit, in der es eine Binsenweisheit war, dass die Kapitalstruktur allein Wert schaffen oder vernichten kann. Die gängige Praxis setzte – und setzt bis heute – auf ein Kapitalkostenkonzept, in dem die Maximierung des Unternehmenswerts zugleich die Minimierung der Durchschnittskosten bedeutete. Die fehlende ökonomische Fundierung erlaubte folgendes Argument: Aktionäre verlangen eine höhere Rendite als Obligationäre. Die Kapitalkosten können also durch höhere Verschuldung gesenkt werden. Dass die Aktionäre genau wegen der höheren Verschuldung eine höhere Rendite verlangen, war diesem Denken fremd.

In einem «Augenzeugenbericht» im Journal of Portfolio Management von 1999 erinnert sich Miller, sein Theorem sei Kristallisierungspunkt der Spannung zwischen Betriebswirtschaftslehre und ökonomischem Denken gewesen. MM besage nichts weniger, als dass alle Anleitungen zur optimalen Kapitalstruktur nur Hokuspokus sind. Kein Wunder, stürzten sich die Praktiker der Corporate Finance auf die Achillesferse des Theorems: seine realitätsfernen Annahmen. Das Problem liege schon in einer der einfachsten Aussagen des Theorems, schrieb Miller weiter: Wenn zwei Unternehmen den gleichen Ertrag haben, ist auch ihr Wert der gleiche, unabhängig von der Kapitalstruktur. Doch wo finde man schon zwei solche Unternehmen? Umgekehrt könne MM nicht durch die Flut neuer Finanzierungsinstrumente falsifiziert werden, da es vollständige Märkte annehme.

Ist MM selbst irrelevant?

So gesehen überrascht es, dass die Bedeutung des Theorems trotzdem unbestritten ist. Das hat zwei Gründe: Erstens stellt MM in der modernen Finance eine der ersten formalen Anwendungen des Arbitrage-Arguments dar – methodisch ein entscheidender Schritt für die Entwicklung der Kapitalmarkttheorie. Das Theorem hat sich in der Folge als Standardanforderung an jede Theorie etabliert. Unter anderem fand es Eingang in die Optionspreismodelle in Form der Put-Call-Parität. Zweitens hat sich die vermeintliche Schwäche von MM gerade als seine fundamentalste Leistung erwiesen: Es beweist, dass eine seiner Annahmen verletzt sein muss, wenn die Kapitalstruktur für ein Unternehmen Bedeutung hat.

Corporate Finance nach 1958 bestand im Wesentlichen darin, die Annahmen – vor allem in Bezug auf Steuern und Transaktionskosten – des Theorems zu lockern, um zu erklären, warum die Kapitalstruktur in der Geschäftswelt alles andere als irrelevant ist. Die Berücksichtigung von Gewinn- und Einkommenssteuern im Modell zeigt etwa, dass es für ein Unternehmen optimal ist, sich nur über Fremdkapital zu finanzieren. Dass eine derart totale Verschuldung in der Praxis nicht vorkommt, ist auch darauf zurückzuführen, dass sie das Konkursrisiko erhöht. Gefährlich nahe kommen diesem Extremfall die Grossbanken mit ungewichteten Eigenkapitalquoten von teilweise um die 3%. Doch Banken profitieren nicht nur vom Steuervorteil bei Schulden, sondern auch von impliziten Garantien. Sie sind zu wichtig, als dass der Staat sie fallen lassen könnte. Es ist kein Zufall, dass in der Branche, wo die Kapitalstruktur so klar von MM abweicht, Friktionen quasi zum Geschäftsmodell gehören. Dass sie die Kapitalstruktur beeinflussen, zeigt gerade die Bedeutung von MM und nicht seine Irrelevanz.

Merton H. Miller (* 16. Mai 1923 in Boston, Massachusetts; † 3. Juni 2000 in Chicago, Illinois)
Merton Howard Miller schrieb sich wie sein Vater, ein Bostoner Anwalt, in Harvard ein. Allerdings schloss er 1943 nicht in Jura ab, sondern in Ökonomie. In seiner Klasse sass ein weiterer späterer Nobelpreisträger: Robert M. Solow. Miller wurde 1990 zusammen mit Harry Markowitz und William Sharpe – und nicht etwa mit Franco Modigliani – der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine grundlegenden Beiträge zur Theorie der Unternehmensfinanzen verliehen. Der Ökonom arbeitete im Zweiten Weltkrieg im US-Schatzamt, setzte aber 1949 seine akademische Laufbahn fort und promovierte 1952 an der Johns Hopkins University. Danach war er Gastprofessor an der London School of Economics, später lehrte er am Carnegie Institute of Technology. Ab 1961 wirkte Miller als Professor an der Graduate School of Business der University of Chicago. Er war zudem Direktor des Chicago Board of Trade und der Chicago Mercantile Exchange.

Franco Modigliani (* 18. Juni 1918 in Rom, † 25. September 2003 in Cambridge, Massachusetts, USA)
Franco Modigliani stammte aus einer jüdischen Familie. Schon mit siebzehn schrieb er sich an der Universität ein. Als Italien 1939 die Rassengesetze beschloss, verliess er Rom mit einem Juraabschluss in der Tasche. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg gelangte er nach New York, wo er in einem für europäische Flüchtlinge eingerichteten Programm der New School for Social Research aufgenommen wurde. Den Lebensunterhalt verdiente er sich in einer Buchhandlung. Er promovierte 1944 mit der Dissertation «Liquidity Preference and the Theory of Interest and Money» und unterrichtete bis 1948 an der New School. Danach war er Professor für Ökonomie an der University of Illinois, von 1962 bis zur Emeritierung 1988 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge. Modigliani erhielt 1985 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine «Pionierleistungen in der Untersuchung des Sparens und der Finanzmärkte».

 

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