Stefan Oschmann, Pharmachef der deutschen Merck-Gruppe, erhofft sich viel von neuen Biotech-Forschungsprojekten und plant mittelgrosse Akquisitionen.
Das deutsche Traditionsunternehmen Merck (MRK 58.03 -0.14%) hat im Pharmageschäft schwierige Zeiten hinter sich.
Herr Oschmann, welche Assoziationen weckt bei Ihnen Ernesto Bertarelli, der als Enkel des Unternehmensgründers 2006 die Serono-Gruppe Merck verkauft hat?
Herr Bertarelli ist ein erfolgreicher Unternehmer und nicht minder erfolgreicher Sportler. Ich bewundere seine Leistung.
Schlechte Gefühle, im Sinne, Bertarelli habe Merck damals vor acht Jahren über den Tisch gezogen, verspüren Sie nicht?
Ganz und gar nicht. Der Deal mit Serono war gut für Merck. Er hat sich sowohl finanziell als auch strategisch gelohnt. Wir haben damit den Einstieg in den Biotechnologiesektor vollzogen.
Andererseits hat Merck eine Pipeline geerbt, die sich im Nachhinein als Ansammlung von Misserfolgen entpuppt hat.
Wir haben ja Serono nicht wegen der Pipeline gekauft. Merck selbst hatte den Wert der Pipeline damals – ich war bei der Übernahme noch nicht im Unternehmen aktiv – gar nicht so hoch angesetzt.
Unter Ihrer Leitung wurde 2012 die Schliessung der ehemaligen Genfer Zentrale von Serono angeordnet. War das ein spätes Eingeständnis, dass Merck besser ein anderes Biotechnologieunternehmen gekauft hätte?
Nein. Das Problem war vielmehr, dass wir eine nicht mehr tragbare Kostenstruktur hatten. Wir konnten so nahe beieinander in Europa, in Genf und Darmstadt, nicht weiter zwei Unternehmenszentralen führen. Die Massnahme bezweckte auch, die Produktivität der Forschung zu erhöhen.
Das von Serono übernommene Portfolio war mit sieben gescheiterten Produkten in Phase III ein Totalausfall. Ein Albtraum?
Das war ein schweres Erbe. Statistisch gesehen schaffen 50 bis 60% der in Phase III erforschten Wirkstoffe die Zulassungshürde. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem aus sieben Kandidaten bestehenden Portfolio alle scheitern, ist nahezu null, es sei denn, ein Anbieter hat – wie wir damals – strukturelle Probleme. Es gab viele Überlappungen zwischen Merck und Serono. Zudem floss zu viel Geld in Gebäude, Maschinen und Mitarbeiter, während für klinische Projekte nur wenig übrig blieb.
Wie sieht es heute aus?
Wir haben heute mehr Geld für Projekte, obwohl wir insgesamt weniger Geld für Forschung und Entwicklung ausgeben.
Hat das Image von Merck Serono wegen des Kahlschlags in Genf im Rekrutierungsmarkt nachhaltig Schaden genommen?
Im Gegenteil. Wir haben in den letzten Jahren an Glaubwürdigkeit gewonnen. Beispielsweise erhalten wir viele Spontanbewerbungen von Mitbewerbern, was wir früher so gut wie nicht erlebt haben.
Dennoch wird Merck nicht in einem Atemzug mit Biotech-Grössen wie Amgen (AMGN 121.82 -0.16%) und Biogen (BIIB 337.64 0.01%) genannt.
Wir müssen jetzt zeigen, dass wir auch mit unserer Pipeline wieder reüssieren. Zuletzt hatten wir primär Erfolg im angestammten Geschäft, mit Rebif gegen Multiple Sklerose, den Produkten gegen Unfruchtbarkeit und dem Krebsmedikament Erbitux. Wir sind in den letzten drei Jahren stets stärker als der Gesamtmarkt gewachsen, und das, während wir umstrukturierten.
Haben Sie die Zitrone besser ausgepresst?
Da wurde und wird nichts ausgepresst. Merck ist traditionell gut in der Produktvermarktung, vor allem mit Blick auf Schwellenländer.
Wie lange dauert es, ehe Merck die Lücken in der Pipeline füllt?
Als ich vor dreieinhalb Jahren zum Pharmachef ernannt wurde, sagte ich, das gehe sieben Jahre. Dabei bleibe ich.
Wo erwarten Sie die grössten Fortschritte?
In der Onkologie und der Immunonkologie. Wir haben beispielsweise neue Daten zu Erbitux. Sie zeigen, dass das Produkt in der Behandlung von Darmkrebs einem Konkurrenzpräparat überlegen ist. Auch der einlizenzierte Onkologiewirkstoff TH-302, der sich in der letzten von drei klinischen Testphasen befindet, stimmt uns erwartungsvoll. Hier rechnen wir für nächstes Jahr mit vielversprechenden Forschungsergebnissen. Wir sind zudem gut im Rennen der Immunonkologie.
Dieses Rennen bestreiten viele.
So viele sind es nicht. In der Klinik sind ausser uns sonst nur vier weitere internationale, grössere Pharmaunternehmen.
Diese Konkurrenten erzielen allesamt mehr Umsatz als Merck. Ist das mittelständische Pharma- und Chemieunternehmen Merck gross genug, um im Geschäft mit Krebspräparaten an der Spitze mitzuspielen?
Im Pharmamarkt waren in der letzten Dekade vor allem mittelgrosse Unternehmen erfolgreich. Firmen, die wie wir ein Forschungsbudget von 1 bis 1,5 Mrd. € pro Jahr haben. Merklich schwerer taten sich, bis auf wenige Ausnahmen, die Grossen.
Welche mittelgrossen Pharmaanbieter dienen Ihnen als Vorbild?
Sehr gute Arbeit geleistet haben Celgene und Biogen. Bristol-Myers (BMY 49.51 0.39%) Squibb galt vor wenigen Jahren noch als Wackelkandidat, hat inzwischen aber den Turnaround geschafft. Wir erwarten das auch von uns.
Die Restrukturierungsphase bei Merck Serono gilt als beendet. Die Einheit befindet sich nun im Stadium des «inorganischen Wachstums». Gehen Sie auf Einkaufstour?
Ja, wir sind offen für mittelgrosse Akquisitionen. Das trifft nicht nur auf die Spezialitätenpharma zu, sondern auch auf die übrigen drei Sparten von Merck.
Was schauen Sie in Ihrem Bereich an?
Wir prüfen regelmässig Opportunitäten mit dem Ziel, uns gezielt vor allem in der Onkologie und der Immunologie zu verstärken, also was in unsere Strategie passt. Einen ganz grossen Biotech-Wettbewerber oder Pharmakonzern können und wollen wir nicht übernehmen.
Hätten Sie angesichts der massiv gestiegenen Bewertungen im Gesundheitssektor nicht längst zuschlagen müssen?
Wir haben in den letzten Jahren bewusst nichts gemacht, denn wir haben erst unser eigenes Haus in Ordnung gebracht.
Zu Ihrem Verantwortungsbereich zählt auch das Geschäft mit nichtrezeptpflichtigen Medikamenten. Beabsichtigen Sie hier grössere Akquisitionen?
Keine Megadeals, aber kleinere bis mittelgrosse Transaktionen prüfen wir gern. Vor allem in Europa befinden sich viele Anbieter noch in Familienbesitz. Das Consumer-Health-Geschäft ist attraktiv, der Weltmarkt wächst pro Jahr rund 5%.
2014 planen Sie rund 100 Mio. € in den Aufbau des Geschäfts mit Kopien von biotechnologisch hergestellten Medikamenten zu investieren. Sind Sie mit Ihren Ambitionen nicht auch hier etwas spät dran?
Wir rechnen uns dank unserem Schweizer Produktionsstandort und dem Namen Merck gute Chancen aus.
Wettbewerber wie Lonza (LONN 100.4 5.35%) und Teva haben sich bereits aus dem Biosimilar-Geschäft verabschiedet. Woran liegt das?
Es scheint, als ob viele Unternehmen die technologischen Voraussetzungen unterschätzt haben. Wir selbst haben uns personell verstärkt und machen in der Biosimilar-Entwicklung mit insgesamt sieben Produkten gute Fortschritte.
Welches Umsatzpotenzial erwarten Sie?
Externe Schätzungen sprechen von jährlich 500 Mio. bis 1 Mrd. €, wobei wir die ersten Produkte zwischen 2016 und 2018 auf den Markt bringen wollen. Das ist ein gutes, durchaus attraktives Geschäft für uns.
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