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09:10 Uhr - 14.07.2014

«Der Deal mit Serono war gut für Merck»

Stefan Oschmann, Pharmachef der deutschen Merck-Gruppe, erhofft sich viel von neuen Biotech-Forschungsprojekten und plant mittelgrosse Akquisitionen.

Das deutsche Traditionsunternehmen Merck (MRK 58.03 -0.14%) hat im Pharmageschäft schwierige Zeiten hinter sich.

Zur Person
Als promovierter Veterinärmediziner und passionierter Pferdezüchter wird Stefan Oschmann oft gefragt, ob er Merck nicht in die Tiermedizin führen wolle. Seine Antwort darauf laute jeweils kategorisch nein, sagt der 56-jährige gebürtige Würzburger. Oschmann, der seit Anfang 2011 die Pharmasparte Merck Serono leitet und auch für den Verkauf nichtrezeptpflichtiger Medikamente (Consumer Health) verantwortlich zeichnet, hält Merck im Gesundheitssektor für genügend diversifiziert. Vor seiner Wahl in die Konzernleitung von Merck hatte Oschmann eine Reihe von Managementfunktionen beim US-Schwesterunternehmen MSD bekleidet.
Sämtliche sieben Phase-III-Entwicklungskandidaten der 2006 für 16,6 Mrd. Fr. übernommenen Genfer Biotechnologiegesellschaft Serono scheiterten. Pharmachef Stefan Oschmann, der 60% des Merck-Umsatzerlöses von 10,7 Mrd. € verantwortet, ordnete 2012 die vollständige Schliessung des ehemaligen Serono-Hauptsitzes in Genf an. Der Entscheid, der Schockwellen durch die Schweizer Biotech-Industrie sandte, sei unumgänglich gewesen, rechtfertigt sich der Topmanager im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft» am Hauptsitz in Darmstadt. «Merck blickt jetzt wieder nach vorn», betont Oschmann, der seine Hoffnungen nicht nur auf eine Reihe neuer vielversprechender Forschungsprojekte setzt. Er strebt auch mittelgrosse Zukäufe im Pharma- und Biotech-Sektor an.

Herr Oschmann, welche Assoziationen weckt bei Ihnen Ernesto Bertarelli, der als Enkel des Unternehmensgründers 2006 die Serono-Gruppe Merck verkauft hat?
Herr Bertarelli ist ein erfolgreicher Unternehmer und nicht minder erfolgreicher Sportler. Ich bewundere seine Leistung.

Schlechte Gefühle, im Sinne, Bertarelli habe Merck damals vor acht Jahren über den Tisch gezogen, verspüren Sie nicht?
Ganz und gar nicht. Der Deal mit Serono war gut für Merck. Er hat sich sowohl finanziell als auch strategisch gelohnt. Wir haben damit den Einstieg in den Biotechnologiesektor vollzogen.

Andererseits hat Merck eine Pipeline geerbt, die sich im Nachhinein als Ansammlung von Misserfolgen entpuppt hat.
Wir haben ja Serono nicht wegen der Pipeline gekauft. Merck selbst hatte den Wert der Pipeline damals – ich war bei der Übernahme noch nicht im Unternehmen aktiv – gar nicht so hoch angesetzt.

Unter Ihrer Leitung wurde 2012 die Schliessung der ehemaligen Genfer Zentrale von Serono angeordnet. War das ein spätes Eingeständnis, dass Merck besser ein anderes Biotechnologieunternehmen gekauft hätte?
Nein. Das Problem war vielmehr, dass  wir eine nicht mehr tragbare Kostenstruktur hatten. Wir konnten so nahe beieinander in Europa, in Genf und Darmstadt, nicht weiter zwei Unternehmenszentralen führen. Die Massnahme bezweckte auch, die Produktivität der Forschung zu erhöhen.

Das von Serono übernommene Portfolio war mit sieben gescheiterten Produkten in Phase III ein Totalausfall. Ein Albtraum?
Das war ein schweres Erbe. Statistisch gesehen schaffen 50 bis 60% der in Phase III erforschten Wirkstoffe die Zulassungshürde. Die Wahrscheinlichkeit, dass in einem aus sieben Kandidaten bestehenden Portfolio alle scheitern, ist nahezu null, es sei denn, ein Anbieter hat – wie wir damals – strukturelle Probleme. Es gab viele Überlappungen zwischen Merck und Serono. Zudem floss zu viel Geld in Gebäude, Maschinen und Mitarbeiter, während für klinische Projekte nur wenig übrig blieb.

Von der Apotheke zum Konzern
Die deutsche Pharma- und Chemiegruppe ist bald 350-jährig. 1668 nahm sie mit der Gründung einer Apotheke in Darmstadt ihren Anfang. Mitglieder der Gründerfamilie Merck halten nach wie vor 70% des Kapitals. Lesen Sie hier mehr.

 

Wie sieht es heute aus?
Wir haben heute mehr Geld für Projekte, obwohl wir insgesamt weniger Geld für Forschung und Entwicklung ausgeben.

Hat das Image von Merck Serono wegen des Kahlschlags in Genf im Rekrutierungsmarkt nachhaltig Schaden genommen?
Im Gegenteil. Wir haben in den letzten Jahren an Glaubwürdigkeit gewonnen. Beispielsweise erhalten wir viele Spontanbewerbungen von Mitbewerbern, was wir früher so gut wie nicht erlebt haben.

Dennoch wird Merck nicht in einem Atemzug mit Biotech-Grössen wie Amgen (AMGN 121.82 -0.16%) und Biogen (BIIB 337.64 0.01%) genannt.
Wir müssen jetzt zeigen, dass wir auch mit unserer Pipeline wieder reüssieren. Zuletzt hatten wir primär Erfolg im angestammten Geschäft, mit Rebif gegen Multiple Sklerose, den Produkten gegen Unfruchtbarkeit und dem Krebsmedikament Erbitux. Wir sind in den letzten drei Jahren stets stärker als der Gesamtmarkt gewachsen, und das, während wir umstrukturierten.

Haben Sie die Zitrone besser ausgepresst?
Da wurde und wird nichts ausgepresst. Merck ist traditionell gut in der Produktvermarktung, vor allem mit Blick auf Schwellenländer.

Wie lange dauert es, ehe Merck die Lücken in der Pipeline füllt?
Als ich vor dreieinhalb Jahren zum Pharmachef ernannt wurde, sagte ich, das gehe sieben Jahre. Dabei bleibe ich.

Wo erwarten Sie die grössten Fortschritte?
In der Onkologie und der Immunonkologie. Wir haben beispielsweise neue Daten zu Erbitux. Sie zeigen, dass das Produkt in der Behandlung von Darmkrebs einem Konkurrenzpräparat überlegen ist. Auch der einlizenzierte Onkologiewirkstoff TH-302, der sich in der letzten von drei klinischen Testphasen befindet, stimmt uns erwartungsvoll. Hier rechnen wir für nächstes Jahr mit vielversprechenden Forschungsergebnissen. Wir sind zudem gut im Rennen der Immunonkologie.

Dieses Rennen bestreiten viele.
So viele sind es nicht. In der Klinik sind ausser uns sonst nur vier weitere internationale, grössere Pharmaunternehmen.

Diese Konkurrenten erzielen allesamt mehr Umsatz als Merck. Ist das mittelständische Pharma- und Chemieunternehmen Merck gross genug, um im Geschäft mit Krebspräparaten an der Spitze mitzuspielen?
Im Pharmamarkt waren in der letzten Dekade vor allem mittelgrosse Unternehmen erfolgreich. Firmen, die wie wir ein Forschungsbudget von 1 bis 1,5 Mrd. € pro Jahr haben. Merklich schwerer taten sich, bis auf wenige Ausnahmen, die Grossen.

Welche mittelgrossen Pharmaanbieter dienen Ihnen als Vorbild?
Sehr gute Arbeit geleistet haben Celgene und Biogen. Bristol-Myers (BMY 49.51 0.39%) Squibb galt vor wenigen Jahren noch als Wackelkandidat, hat inzwischen aber den Turnaround geschafft. Wir erwarten das auch von uns.

Die Restrukturierungsphase bei Merck Serono gilt als beendet. Die Einheit befindet sich nun im Stadium des «inorganischen Wachstums». Gehen Sie auf Einkaufstour?
Ja, wir sind offen für mittelgrosse Akquisitionen. Das trifft nicht nur auf die Spezialitätenpharma zu, sondern auch auf die übrigen drei Sparten von Merck.

Was schauen Sie in Ihrem Bereich an?
Wir prüfen regelmässig Opportunitäten mit dem Ziel, uns gezielt vor allem in der Onkologie und der Immunologie zu verstärken, also was in unsere Strategie passt. Einen ganz grossen Biotech-Wettbewerber oder Pharmakonzern können und wollen wir nicht übernehmen.

Hätten Sie angesichts der massiv gestiegenen Bewertungen im Gesundheitssektor nicht längst zuschlagen müssen?
Wir haben in den letzten Jahren bewusst nichts gemacht, denn wir haben erst unser eigenes Haus in Ordnung gebracht.

Zu Ihrem Verantwortungsbereich zählt auch das Geschäft mit nichtrezeptpflichtigen Medikamenten. Beabsichtigen Sie hier grössere Akquisitionen?
Keine Megadeals, aber kleinere bis mittelgrosse Transaktionen prüfen wir gern. Vor allem in Europa befinden sich viele Anbieter noch in Familienbesitz. Das Consumer-Health-Geschäft ist attraktiv, der Weltmarkt wächst pro Jahr rund 5%.

2014 planen Sie rund 100 Mio. € in den Aufbau des Geschäfts mit Kopien von biotechnologisch hergestellten Medikamenten zu investieren. Sind Sie mit Ihren Ambitionen nicht auch hier etwas spät dran?
Wir rechnen uns dank unserem Schweizer Produktionsstandort und dem Namen Merck gute Chancen aus.

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Qualität wird ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal im Biosimilar-Markt sein.

Wettbewerber wie Lonza (LONN 100.4 5.35%) und Teva haben sich bereits aus dem Biosimilar-Geschäft verabschiedet. Woran liegt das?
Es scheint, als ob viele Unternehmen die technologischen Voraussetzungen unterschätzt haben. Wir selbst haben uns personell verstärkt und machen in der Biosimilar-Entwicklung mit insgesamt sieben Produkten gute Fortschritte.

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Welches Umsatzpotenzial erwarten Sie?
Externe Schätzungen sprechen von jährlich 500 Mio. bis 1 Mrd. €, wobei wir die ersten Produkte zwischen 2016 und 2018 auf den Markt bringen wollen. Das ist ein gutes, durchaus attraktives Geschäft für uns.

Investitionsgelegenheit für Contrarians
Die Aktien des deutschen Unternehmens Merck KGaA befinden sich ausserhalb des Radars vieler Investoren. Das hängt damit zusammen, dass die Gesellschaft wegen ihrer vielfältigen Aktivitäten im Pharma- und Chemiesektor schwer vergleichbar ist. Vielen Anlegern dürfte zudem missfallen, dass lediglich 30% des Aktienkapitals im Streubesitz sind. Merck ist unter diesem Gesichtspunkt auch kein Übernahmekandidat. Die im Gesundheitssektor zurzeit besonders zahlreichen Wetten auf einen Eigentümerwechsel laufen anderswo.

Unter Analysten sind die Merck-Aktien ebenfalls wenig populär. Nur gerade acht der 34 Branchenbeobachter in der Datenbank von Bloomberg sprechen für die Titel eine Kaufempfehlung aus. Zwanzig raten zum Halten und sechs zum Verkauf. Für risikofähige Anleger, die sich gerne als Contrarian betätigen, eröffnet sich vor diesem Hintergrund eine Kaufgelegenheit, zumal die Merck-Valoren auf Basis eines Kurs-Gewinn-Verhältnisses 2015 von 13 im Vergleich zum Pharmasektor niedrig bewertet sind.

Merck produziert zwar auch Pigmente, Laborchemikalien sowie – für die Verwendung in Bildschirmen – Flüssigkristalle und neuartige organisch lichtemittierende Dioden (OLED). Doch für den Geschäftserfolg entscheidend ist die Pharmasparte Merck Serono. Sie trug letztes Jahr 54% zum Umsatz und sogar 60% zum Ebitda vor Sondereinflüssen bei. Nach einer Serie von Misserfolgen werde der Pipeline so gut wie kein Wert attestiert, schreiben die Analysten der Deutschen Bank. Das lässt den Schluss zu, dass die Aktien von Entwicklungserfolgen umso mehr profitieren würden. Die Vertreter der Deutschen Bank zählen zu den wenigen Analysten, die die Merck-Titel für kaufenswert halten.

 

 

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