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07:06 Uhr - 23.09.2016

«Small und Mid Caps haben die beste Zukunft»

Christian Gattiker, Chefstratege und Leiter Research & Investment Solutions von Bank Julius Bär, ist trotz Anstieg der langen Zinsen für Aktien positiv gestimmt.

Herr Gattiker, viele Anleger halten sich zurück, viele schieben einen Cash-Anteil von 30% oder mehr vor sich hin. Haben Sie dafür Verständnis?
Ja, das ist nichts als menschlich und dem geschuldet, was man Anlagenotstand nennt. Meist ist es nicht die Angst vor Aktien, die Anleger ins Bargeld zwingt. Vielmehr ist es für viele die psychologische Hürde, wenn Anleihen mit Coupons von 4 bis 5% fällig geworden sind, in kaum rentierende Neuemissionen einzusteigen, oder Kreditrisiken für eine halbwegs passable Rendite in Kauf zu nehmen. Die Tiefstzinsen haben wider Erwarten zur Folge, dass mehr Bargeld gehortet wird.

Christian Gattiker«Der Strategie treu bleiben. Investieren heisst nicht, den Schalter von Risk-on zu Risk-off umlegen und umgekehrt.» Bild: ZVGMit Cash kann man in inflationsloser Zeit immerhin nichts verlieren. Wie riskant ist es, jetzt Geld anzulegen?
Nur Bares ist Wahres, ist ein Irrtum. Im Rückblick stellt sich heraus, dass in keinem Anlageumfeld Cash die beste Anlageklasse war – jedenfalls nicht über zwölf Monate. Anleger haben in der Regel das Gefühl, dass sie in aussergewöhnlichen Zeiten leben, auch im Boom. Mit etwas Distanz stellt sich dann heraus, dass dem nicht so war.

Was heisst das auf heute bezogen?
Zum Beispiel sind die Renditen langlaufender Schweizer Staatsanleihen auf Rekordtief. Wenn wir aber die Realzinsen als relevante Grösse nehmen, also Nominalzinsen minus Inflation, dann waren Eidgenossen in der Ölkrise, Anfang der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, noch viel teurer. Rückblickend war es nicht falsch, risikobehaftete Anlagen zu halten.

Wo würden Sie demnach investieren?
Es gibt zurzeit wenig Grund, von der strategischen Anlagepolitik abzuweichen, die hoffentlich jeder Anleger für sich kennt. Sollten sich grosse Wendepunkte anbahnen, steigende Rezessionsrisiken etwa oder ein Anspringen der Inflation, kann sich das verändern. Wer in Franken denkt, hält sich generell am besten an Anlagen in der Heimwährung. Wer in Franken erfolgreich ist, ist es überall sonst auch. Schweizer Aktien streuen die Währungsrisiken am besten, über die meisten kotierten Titel hält der Aktionär mehr als 95% Fremdwährungsrisiken. Diese Risiken haben die Unternehmen über den Zyklus bemerkenswert und anlegerfreundlich gemeistert. Einzig Technologie und Rohstoffe muss man im Ausland einkaufen.

Mit anderen Worten: an Risikoanlagen wie Aktien festhalten?
Prinzipiell ja. Wir nehmen selbstverständlich auch immer wieder taktische Gelegenheiten wahr. So haben wir im Frühjahr Schwellenländeranleihen in Lokalwährungen zugekauft und jüngst erste Gewinne mitgenommen. Aber alles in allem heisst Investieren nicht, den Schalter von Risk-on zu Risk-off umzulegen und umgekehrt. Es gibt eine Reihe von Anlagen, die derzeit eine stattliche Rendite abwerfen.

September und Oktober gelten als schwierige Börsenmonate. Sollte man da den Aktienteil nicht eher reduzieren?
Ich habe die Saisonalität als Anlagemotiv nie ganz verstanden, zumal sich die Muster über die Zeit verschieben. Langfristigen Studien zufolge soll die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts gerade die umgekehrte Saisonalität gehabt haben.

zoomSie sprachen von Wendepunkten, sind die  jüngst steigenden langen Zinsen kein Paradigmenwechsel?
Schauen wir uns die Masseneinwanderungsinitiative, den Brexit, den Erfolg von Donald Trump, die Alternative für Deutschland an: Es macht sich massiver Globalisierungswiderstand breit, nicht zuletzt, weil es an Wachstum mangelt. So könnte durchaus eine durch Staatsausgaben getriebene Reflationierung anstehen – finanziert mit Helikoptergeld. Klingt schrill, ist aber bereits im Gang und wartet nur auf weltweiten Einsatz. Dann müsste man auf Zykliker und Bankaktien setzen, die von steigenden Zinsen profitieren. Doch jüngst waren eher andere Kräfte am Werk: Der Auslöser für den Renditeanstieg war eher eine übermässige Positionierung am langen Ende sowie eine technische Änderung für US-Geldmarktfonds Mitte Oktober, was einige Turbulenzen in der Zinskurve ausgelöst hat.

Bisher drehte sich die Diskussion stets um die Frage, ob und wann die US-Notenbank den Leitsatz auch dieses Jahr erhöht. Wie relevant ist das Thema noch, machen sich die Zinsen selbständig?
Die Notenbanken kontrollieren vor allem das kurze Ende der Zinskurve. Der ersten Zinserhöhung letzten Dezember folgten fallende Zinsen am langen Ende. Es wurde befürchtet, dass die US-Notenbank den Aufschwung abmurkse. Moderat höhere lange Zinsen würden auf ein Ende der Deflationsstarre hinweisen. Ein unkontrolliertes Hochschiessen respektive ein Bond-Crash wäre dagegen wohl das Übelste, was passieren könnte. Doch spricht gegenwärtig wenig dafür.

Bankaktien haben sich in den letzten Monaten erholt. Hält der Aufschwung an?
Der Anstieg war jedenfalls stark genug, dass sie nicht mehr zu den Konsensverlierern gehören. Gerade in Europa jedoch arbeiten die Banken die nächsten zwei bis drei Jahre weiter für die Gläubiger, sprich, die Anleihenbesitzer, indem sie auf Geheiss des Regulators ihre Bilanz verbessern. Deshalb glauben wir, dass nachrangige Papiere guter Banken das Anlegerkapital besser verzinsen als die Aktien des gleichen Hauses.

Dafür hat das Interesse für Schwellenländer wieder nachgelassen. Was könnte die nächste Rotation sein?
Tatsächlich war die Gegenbewegung heftig. In Hartwährungen gemessen notieren aber einige der Märkte noch 50 bis 60% unter den Höchst von 2008 bis 2010. Die Kaufchance galt bisher für Schwellenländeraktien. Eine glaubhafte Rückkehr auf den Wachstumspfad weltweit würde das Aktiensegment weiter befeuern – mit Rückenwind der Währungen.

Und auf der Obligationenseite? Wo sind die stattlichen Renditen, die Sie erwähnten?
Vor allem in den USA. Da empfehlen wir konservativen Anlegern qualitativ hochstehende Unternehmensanleihen und den nervenstarken hochverzinsliche Titel. Oder nachrangige Anleihen guter europäischer Banken als Alternative.

Was sind Sektoren, Themen und Märkte, die nicht nur kurzfristig, sondern strategisch Erfolg versprechen?
Technologie und Gesundheitswesen sind beides Bereiche grösster Umwälzungen. Da gibt’s langfristiges Wachstum.

Und wo drängt sich Vorsicht auf?
Wer nur von immer tieferen Zinsen profitierte wie einige Versorger, Nahrungsmittelunternehmen und die Immobilienindustrie, dürfte beim Ausbleiben neuer Zinstiefs die nächsten Jahre hinter dem Markt zurückbleiben. Auch gute Risiken in europäischen Anleihen, auf dem Radar der Zentralbankkäufer, haben den Boden der Bewertungsrealität verlassen.

Stützt die Zinsdifferenz den Dollar noch, oder sprechen die Karten für den Euro?
Wir neigen derzeit eher zum Dollar. Er ist  zurück als sicherer Hafen, und die Realzinsen spielen in seine Richtung. Dagegen würde im Szenario einer breiten Reflationierung der Euro an Fahrt gewinnen. Europa ist das neue Japan, und der Euro steigt und fällt mit den globalen Exporten.

Grundsatzfrage: Wie vertrauenswürdig sind Finanzmärkte, die von der ultra-lockeren Hand der Notenbanken leben?
Gegenfrage: Wie vertrauenswürdig wären Finanzmärkte, die sich gegen die Notenbankpolitik aufbäumen? Regel Nummer eins seit Ende des Zweiten Weltkriegs heisst: Am Schluss gewinnt das Fed.

Kein Absturzrisiko oder zumindest Korrekturgefahr? Mit welcher Börse rechnen Sie für die nächsten sechs bis zwölf Monate?
Es gibt immer ein Absturzrisiko, und wer keinen unmittelbaren Verlust von 20% auf seine Anlagen nehmen kann, sollte gar nicht erst in Aktien investiert sein. Die Vorhersage von Crashes ist eine beliebte Disziplin, weil im Eintretensfall Guru-Status lockt und, wenn man falsch liegt, keiner böse ist. Wir erwarten, dass die Aktien, und da viele US-Wachstumswerte und Schweizer Mittelklassewerte, die Anleger noch tüchtig ’ärgern’ werden, indem sie weiter steigen. Jeder Rückschlag scheint das Ende der Welt, jeder Höchststand das Ende der Fahnenstange zu sein – bis im Frühling 2017 im S&P 500 (SP500 2177.18 0.65%) die 2500er-Marke winkt.

Von den üblichen Verdächtigen wie Pharma, Nestlé (NESN 78.1 0.9%) und Versicherer abgesehen, welche Aktien sind ein Muss im Depot?
Schweizer Aktien klein- bis mittelgrosser Unternehmen. Sie erreichten jüngst neue Allzeithöchst und spiegeln viel mehr, was weltweit abgeht als die Grossen im Swiss Market Index, die vor Hillary Clintons ­Gesundheitsreform und von Tiefstzinsen hergetrieben werden. DKSH (DKSH 71.9 0.28%), Dorma+Kaba (DOKA 742 0.88%), Forbo (FORN 1322 1.93%), Geberit (GEBN 427.9 1.37%), Georg Fischer (FI-N 832.5 1.4%), Helvetia (HELN 504 0.8%), Lindt & Sprüngli (LISN 66950 0.51%), Panalpina (PWTN 136.9 1.26%), Partners Group (PGHN 493.5 0.87%), um nur einige zu nennen, versprechen weiteren Erfolg.

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