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15:49 Uhr - 09.06.2015

Türkei birgt Tücken

Nach den Parlamentswahlen vom vergangenen Wochenende stehen den türkischen Finanzmärkten herausfordernde Monate bevor.

Die türkische Bevölkerung hat den Allmachtsfantasien von Staatspräsident Recep Erdogan ein jähes Ende bereitet. Zwar bleibt nach den Parlamentswahlen vom Wochenende die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) die stärkste Kraft im Land. Mit einem Stimmenanteil von rund 40% hat sie allerdings ihre absolute Mehrheit preisgegeben. Den Plan, die Türkei in ein autoritäres Präsidialsystem zu überführen, muss AKP-Mitgründer Erdogan damit begraben.

Obschon der Wahlausgang aus politischer Sicht zu begrüssen ist, dürfte er am lokalen Finanzmarkt noch geraume Zeit für Unsicherheit sorgen. Einen Vorgeschmack darauf lieferte bereits der Montag: Der Leitindex ISE 100 sackte rund 5% ab, die türkische Lira verlor deutlich an Boden und die Zinsen auf zehnjährige Staatsanleihen erhöhten sich gegenüber der Vorwoche rund 50 Basispunkte auf 9,7%.

Schwierige Koalitionsverhandlungen

Vieles wird nun davon abhängen, wie schnell eine tragfähige Regierung gefunden werden kann. Die Palette an möglichen Szenarien ist gross. So könnte sich die AKP dazu entschliessen, eine Minderheitsregierung zu bilden – etwa unter dem Versprechen, innerhalb nützlicher Frist neuerliche Parlamentswahlen abzuhalten. Dieser Ausgang wäre für die Finanzmärkte laut Einschätzung von Morgan Stanley der schlechteste, würde er die Periode der Unsicherheit doch weiter verlängern.

Denkbar wäre ebenfalls eine Koalition zwischen der AKP und einer der anderen drei Parlamentsparteien. Allerdings haben sich sowohl die Exponenten der sozialdemokratischen CHP, als auch der nationalistischen MHP und der pro-kurdischen HDP im Wahlkampf von einem Zusammengehen distanziert.

Letztlich könnte Staatspräsident Erdogan auch Neuwahlen einberufen, sollte innerhalb einer Frist von 45 Tagen keine Regierung gefunden werden. Freilich – darin sind sich die meisten Beobachter und Analysten einig – würde das kaum garantieren, dass aus einer Wiederholung ein stabileres Politgefüge resultiert.

Gefährlicher Cocktail aus Risiken

Die Lage wird für die Türkei damit nicht einfacher. Bereits jetzt ist die Nation einem gefährlichen Mix aus Problemen und Risiken ausgesetzt. So hat sich etwa das Wirtschaftswachstum spürbar eingetrübt. Nahm das Bruttoinlandprodukt (BIP) in früheren Jahren noch zwischen 5 und 10% zu, ist die Konsensprognose für 2015 laut Bloomberg inzwischen auf mageres Wachstum von 3,2% gesunken.

Auch leidet die Türkei an hartnäckiger Inflation, die mit rund 8% (Stand Mai) deutlich über der von der Zentralbank anvisierten Rate von 5% liegt. Die anhaltende Schwäche der Lira – seit dem Sommer 2013 hat sie sich zum Dollar mehr als 30% abgewertet – trägt das ihre zur Misere bei: So schätzen die Analysten von Credit Suisse, dass eine Abwertung von 10% gegenüber einem breiten Währungskorb die Kerninflation um 1,8 Prozentpunkte vergrössert.

Ausserdem weist das Land ein hohes Leistungsbilanzdefizit auf, das sich 2014 gegenüber dem Vorjahr zwar von 65 auf 46 Mrd. $ reduziert hat, aber immer noch beinahe 6% der nationalen Wirtschaftsleistung beträgt. Da die Türkei netto ein Energieimporteur ist, dürften immerhin die gesunkenen Energiepreise dazu beitragen, das Ungleichgewicht zu reduzieren. So gehen die Analysten von Barclays davon aus, dass sich das Defizit im laufenden Jahr auf rund 4,5% des BIP verringert.

Hohe Verschuldung in Dollar

Ein Leistungsbilanzdefizit ist zwar nicht per se schlecht. Die türkische Wirtschaft birgt allerdings diverse Faktoren, die eine Finanzkrise begünstigen würden. Das zeigt eine Analyse der Ratingagentur Fitch: Nicht nur ist das Volumen der Fremdverschuldung gestiegen. So schätzt die türkische Zentralbank, dass allein im laufenden Jahr rund 166 Mrd. $ an Fremdschulden auslaufen, was das Land einem hohen Refinanzierungs- und Zinsrisiko aussetzt.

Auch habe es die Türkei in den letzten Jahren versäumt, mehr ausländische Direktinvestitionen (FDI) anzuziehen, um so die Abhängigkeit von kurzfristigen Kapitalquellen zu verringern. Deshalb sei der Anteil an kurzfristigen Finanzinstrumenten gestiegen, was die Negativwirkung rascher Kapitalabflüsse deutlich verstärken würde.

Zudem ist die Türkei – ähnlich wie Brasilien, Russland und Südafrika – besonders stark der Dollarstärke ausgesetzt. Schulden in der amerikanischen Währung machen zurzeit mehr als 30% des türkischen BIP aus. Das sind keine guten Vorzeichen, gerade wenn die USA bald mit Zinserhöhungen beginnen und damit für eine weitere Stärkung des Greenbacks sorgen würden.

Die wachsende Unsicherheit zeigt sich auch in der Investitionsfreude internationaler Anleger. Noch 2012 flossen laut Statistiken der türkischen Zentralbank netto rund 22,5 Mrd. $ in türkische Aktien und Staatsanleihen. Doch seither haben sich die Zuflüsse deutlich verringert. Im bisherigen Jahresverlauf wurden gar Nettoabflüsse von rund 2,5 Mrd. $ verzeichnet.

Rating bleibt vorerst unangetastet

Immerhin hat die Türkei bislang eine Abstufung durch die Ratingagenturen umgehen können. So gab Standard and Poor’s am Montag bekannt, die Bonitätseinstufung vorerst auf Investmentqualität zu belassen (BBB-), wenn auch mit einem negativen Ausblick. Die weitere Entwicklung sei nun massgeblich davon abhängig, ob und wie rasch eine Koalition gebildet werde oder ob die AKP als Minderheitsregierung fortfahre. Sollten geplante Wirtschaftsreformen erfolgreich umgesetzt werden – dazu gehört etwa, die Sparquote zu erhöhen, mehr Frauen in den Arbeitsmarkt zu bringen sowie die Schattenwirtschaft zu reduzieren –, könnten sich die Aussichten allerdings durchaus aufhellen.

Dennoch bleibt die Türkei für ausländische Investoren vorerst ein schwieriges Pflaster, gerade auch wegen der weiteren Abwertung der Lira. Laut Capital Economics könnte die politische Unsicherheit kaum zu einem schlechteren Zeitpunkt kommen: Nach Ansicht der Analysten erscheint die Türkei von allen bedeutenden Schwellenmärkten zurzeit deshalb am verwundbarsten.

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