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06:53 Uhr - 29.12.2015

Die Entglobalisierung der Weltwirtschaft

Nach Jahren starken Wachstums zeigt der Welthandel ungewohnte Schwächen – und sorgt damit unter Ökonomen für rege Diskussionen: Haben wir den Höhepunkt der Globalisierung überschritten?

Während Jahrzehnten kannte die Entwicklung des Welthandels nur eine Richtung: steil nach oben. Bis die Finanzkrise 2008/09 den Trend jäh unterbrach. In welche Richtung der Welthandel nun tendiert, hängt massgeblich von folgenden Fragen ab: Ist die Schwäche ein zyklisches Phänomen, das mit der konjunkturellen Erholung von selbst verschwindet? Oder sind es strukturelle Veränderungen, mit denen sich der Markt langfristig arrangieren muss?

Dass diese Fragen von Relevanz sind, unterstrich jüngst das Forschungsnetzwerk CEPR (Centre for Economic Policy Research) in einer Studie: Der globale Handel fungiere als wichtiger Kanal des Technologie- und Wissenstransfers und habe massgeblich dazu beigetragen, Ressourcen effizienter zu allozieren sowie die Kluft zwischen den Industrie- und Schwellenländern zu verkleinern.

Theorie des Peak Trade

Den strukturellen Erklärungsversuchen haben deren Befürworter bereits griffige Namen verpasst. Von Entglobalisierung ist etwa die Rede. Oder von Peak Trade. Ihrer Meinung nach markiere 2007 einen Wendepunkt. Hier habe die Trade to GDP Ratio – das weltweite Verhältnis zwischen Export- und Importvolumen und dem Bruttoinlandprodukt – bei 60% ein Höchst erreicht und werde nun maximal seitwärts tendieren (vgl. Grafik unten). Tatsächlich: Zwar hat sich die globale Handelsaktivität vom Einbruch 2008/09 erholt – zumindest soweit die Daten von Penn World Table reichen (2011). Die Indikatoren der vergangenen Monate deuten aber auf eine erneute Abschwächung hin.

Summe der weltweiten Exporte und Importe in % des Welt-BIPzoom

In einem Punkt ist sich die Ökonomengilde jedenfalls einig: Die Hoffnung, zu den enormen Wachstumsraten der Neunziger- und Nullerjahre zurückzukehren, muss begraben werden – wirkten damals doch gleich zwei Sonderfaktoren, die sich in dieser Form kaum mehr wiederholen. Erstens gelangten mit dem Kollaps des Ostblocks Millionen neuer Konsumenten auf den Weltmarkt. Zweitens ermöglichte erst die Liberalisierung bedeutender Schwellenländer – vor allem Chinas – die internationale Expansion und Fragmentierung der Produktionsketten.

Gerade letzteres führte die Trade to GDP Ratio bis 2007 in ungeahnte Höhen. Werden Komponenten und Halbfabrikate grenzüberschreitend verschoben, bläht dies zwar die Export-Import-Statistik auf. Das Bruttoinlandprodukt – das nur die zusätzliche Wertschöpfung abbildet – wird dadurch aber kaum tangiert.

Europa als Sündenbock

Vertreter der zyklischen These verweisen primär auf die Eurozone, deren Schwierigkeiten den Welthandel überproportional belasten. Gemäss CEPR ist allein der EU-Binnenmarkt für rund ein Drittel des globalen Handels verantwortlich. Auch die Wachstumsabkühlung Chinas – immerhin für 10% des weltweiten Importvolumens zuständig – habe die Lage negativ beeinflusst. Eine Erholung der Konjunktur würde zwangsläufig auch dem Welthandel wieder auf die Sprünge helfen.

Befürworter des Peak-Trade-Arguments gehen mit dieser Einschätzung zwar einig. Sie orten zusätzlich aber auch strukturelle Veränderungen – etwa in der Gestaltung der Produktionsketten. Diese würden wieder verkürzt und geographisch an die Absatzmärkte herangeführt. Das zeige sich etwa am Phänomen der Reindustrialisierung der USA.

Fragile Fertigungsketten

Dafür gebe es zahlreiche Treiber. Die Lohndifferenz zu den Emerging Markets sei vielerorts so stark gesunken, dass sich der Koordinations- und Transportaufwand einer ausgelagerten Fertigung nicht mehr lohne. Auch werde es immer wichtiger, rasch auf Nachfrageveränderungen im Absatzmarkt zu reagieren.

Gleichzeitig haben viele multinationale Konzerne realisiert, dass mit fragmentierten Fertigungsketten nützliche Rückkopplungseffekte auf Forschung und Entwicklung entfallen. Letztlich hätten verschiedene Ereignisse – darunter die Erdbebenkatastrophe 2011 in Japan – offengelegt, wie fragil die immer komplexeren  Versorgungsketten geworden sind.

Ein weiteres Handelshemmnis liegt in der schleichenden Rückkehr protektionistischen Verhaltens. Obschon zurzeit mehrere bedeutende Freihandelsabkommen ausgearbeitet werden – etwa die Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) zwischen der EU und den USA –, seien wettbewerbsverzerrende Praktiken beileibe nicht verschwunden.

Im Gegenteil: Allein von Januar bis Oktober 2015 zählte der vom CEPR koordinierte «Global Trade Alert» 539 neue protektionistische Massnahmen – was dem höchsten Wert seit der Finanzkrise entspricht. Die Eingriffe nähmen dabei subtile Formen an und zeigten sich beispielsweise in der exklusiven Vergabe von staatlichen Aufträgen an inländische Unternehmen. Die Hauptschuld trügen dabei vor allem die Industrienationen: Vier Fünftel der Massnahmen seien auf G20-Staaten zurückzuführen.

Als struktureller Faktor werden auch die typischen sektoriellen Verschiebungen genannt. Mit wachsenden Einkommen gewinnen Dienstleistungen an Bedeutung. Sie sind im Vergleich zu physischen Gütern jedoch schwieriger handelbar und stärkeren Beschränkungen unterworfen. So werde oft gerade der Markteintritt ausländischer Serviceanbieter behindert oder vollständig untersagt.

Gleichzeitig bildet die Trade to GDP Ratio die Relevanz des Sektors nicht vollständig ab: Das multilaterale Abkommen GATS (General Agreement on Trade in Services) der Welthandelsorganisation WTO definiert grenzüberschreitende Dienstleistungen zwar durchaus als Handelsaktivität. Sie sind allerdings oft an ausländische Direktinvestitionen geknüpft, die nicht in der Export-Import-Statistik berücksichtigt werden.

Neue Chancen für KMU

Ist die aktuelle Schwäche des Welthandels nun ein zyklisches oder ein strukturelles Phänomen? Die Antwort auf diese Frage steht noch aus. Wie so oft dürfte die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegen.

Selbst wenn die Hindernisse struktureller Natur sein sollten, sind grössere Sorgen allerdings nicht angebracht. Denn gerade der technologische Fortschritt dürfte tatkräftig dazu beitragen, dass der globale Handel nicht austrocknet: Bislang war es vor allem multinationalen Konzernen vorbehalten, auf dem Weltmarkt aktiv zu werden. Die Digitalisierung, die wachsende Verbreitung des Internets, E-Commerce-Plattformen und effizientere Logistik- und Bezahllösungen haben diese Hürde für kleine und mittelgrosse Gesellschaften (KMU) nun deutlich gesenkt.

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