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14:21 Uhr - 12.03.2015

Inflation wegen hoher Staatsschulden?

Hohe Schulden und drohende Haushaltsdefizite heizen die Teuerung an, besagt die fiskalische Theorie der Preise. Die Notenbank kann nur wenig ausrichten.

Wie entsteht Inflation, und kann die Geldpolitik sie wirksam kontrollieren? Um diese Fragen zu beantworten, entwickelten Ökonomen im Lauf der Zeit unterschiedliche Ansätze.
Gemäss der traditionellen monetaristischen Sicht, von Milton Friedman vor über vierzig Jahren zusammengefasst, ist Inflation immer und überall ein monetäres Phänomen. Der neukeynesianische Ansatz, der derzeit in der geldpolitischen Forschung und Praxis dominiert, betont hingegen die Rolle von Zinsen und Erwartungen; Geldmengenaggregate spielen allenfalls eine indirekte Rolle.

Zu den AutorenDirk Niepelt ist Direktor des Studienzentrums Gerzensee, Stiftung der Schweizerischen Nationalbank, und Professor für Ökonomie an der Universität Bern.

Enzo Rossi ist wissenschaftlicher Berater der Schweizerischen Nationalbank. Sie vertreten ihre persönliche Meinung.
Ein dritter Ansatz hebt die Bedeutung der Fiskalpolitik für die Inflation hervor. Seine Grundannahmen und Schlussfolgerungen sind in der Wissenschaft umstritten und in der Öffentlichkeit weniger bekannt. Doch dies dürfte sich ändern. Weit verbreitete Ängste vor den Folgen der als bedrohlich empfundenen Schuldenpolitik in vielen Ländern weisen Parallelen zum fiskalischen Erklärungsansatz auf.

Die fiskalische Sicht

Mehr zum ThemaMonetaristische Sicht

Neukeynesianische Sicht
Neben der monetaristischen und der neukeynesianischen Sicht messen alternative Theorien fiskalischen Aspekten eine wesentlich bedeutendere Rolle in der Erklärung der Inflation bei. Sie stellen in Abrede, dass Staatshaushalt und Geldpolitik unabhängig voneinander operieren können. Und sie folgern, dass die Fiskalpolitik unter Umständen einen grossen Einfluss auf die Inflation und die Inflationserwartungen ausübt.

Die Zentralbank kann die Preisstabilität nur dann dauerhaft gewährleisten, wenn sie ihre Eigenständigkeit bewahrt und gegenüber der Fiskalpolitik ihren Handlungsspielraum durchsetzt. Gelingt ihr dies nicht und glauben Sparer und Investoren, dass der Schuldendienst des Staates nur noch mit der «Notenpresse» gewährleistet werden kann, dann bergen hohe Staatsschulden und drohende Defizite Gefahren für die Preisstabilität.

Das Wichtigste■ Staatsschulden spielten für die Inflation keine wichtige Rolle, sagen Monetaristen und Neukeynesianer.

■ Die Notenbank sei aber ohne Unterstützung der Fiskalbehörden machtlos, sagt die fiskalische Theorie der Preise.

■ Die Theorie dient als Warnung: Eine erwartete Verschlechterung im Staatshaushalt kann die Teuerung anfachen.
Formal ist der Ausgangspunkt dieser Überlegungen die intertemporale Budgetgleichung des Staates: Die ausstehende Staatsschuld entspricht den diskontierten zukünftigen Primärüberschüssen (Steuereinnahmen inkl. Seigniorage abzügl. Ausgaben ohne Schuldendienst) des Staates. Sei B die Nominalschuld, P das Preisniveau und S die Summe der diskontierten und inflationsbereinigten Primärüberschüsse, dann gilt die Beziehung: B/P = S.

Die Gültigkeit dieser Gleichung ist unbestritten, die Diskussion entzündet sich an ihrer Interpretation. Gemäss konventioneller Sicht stellt die Gleichung eine Restriktion für die Einnahmen und die Ausgaben des Staates dar. Demnach muss die Fiskalpolitik unabhängig von der Geldpolitik und vom Preisniveau P sicherstellen, dass die Primärüberschüsse S genügen, um die reale Staatsschuld B/P zu bedienen.

Dagegen betont die fiskalische Sicht, dass die Fiskalpolitik womöglich der Budgetgleichung keine genügende Beachtung schenkt. Damit die Gleichung dennoch erfüllt ist, muss entweder die Zentralbank ihre Politik ändern, um die Seigniorage-Einnahmen (Teil von S) auf das notwendige Niveau zu bringen, oder aber das Preisniveau P muss sich anpassen.
Zunächst zur ersten dieser beiden Möglichkeiten. Angenommen, die Staatsausgaben abzüglich Schuldendienst übersteigen die Einnahmen aus Steuern und Abgaben dauerhaft (chronisches Primärdefizit), und die Staatsschuld sei indexiert, sodass die real ausstehende Staatsschuld B/P nicht beeinflusst werden kann. Um die Budgetgleichung zu erfüllen, bleibt der Geldpolitik dann nichts anderes übrig, als durch hohe Seigniorage-Einnahmen – trotz des fiskalischen Primärdefizits – genügende Primärüberschüsse S zu gewährleisten. Für diese Seigniorage muss die Zentralbank früher oder später die Geldmenge stark ausweiten. Das Geldwachstum steigt und infolgedessen die Inflation.

Diese von Thomas Sargent und Neil Wallace unter dem Titel «Unpleasant Monetarist Arithmetic» entwickelte Erklärung der Inflation hat die wirtschaftspolitische Praxis stark beeinflusst. Zwei Schlussfolgerungen lassen sich ableiten. Erstens ist Inflation zwar ein monetäres Phänomen, ganz in der Tradition Milton Friedmans, doch die zugrundeliegenden geldpolitischen Entscheide können durchaus fiskalisch motiviert sein. Zweitens lässt sich das Inflationsproblem institutionell lösen. Dazu muss die Zentralbank glaubwürdig in Aussicht stellen, dass sie den Fiskalbehörden im Zweifelsfall fehlende Einnahmen verweigert.

Weltweit haben Länder diesen Lösungsansatz umzusetzen versucht, indem sie ihren Zentralbanken und deren Vertretern weitgehende Unabhängigkeit gewährten und sie vorrangig dem Ziel der Preisstabilität verpflichteten.

Kontraproduktive Zinspolitik

Doch angesichts der zweiten Möglichkeit mag dies nicht genügen. Unterstellen wir realistischerweise, die Staatsschulden seien nicht indexiert. Wenn sich dann die erwarteten Primärüberschüsse verringern und die Zentralbank sich weigert, mit höherer Seigniorage zu reagieren, dann kann die Budgetgleichung nur erfüllt werden, indem das Preisniveau P sich anpasst.

Ein derartiges Szenario ist unter der Bezeichnung fiskalische Theorie der Preise (Fiscal Theory of the Price Level, FTPL) bekannt, und seine Relevanz wird von prominenten Ökonomen wie John Cochrane, Eric Leeper, Christopher Sims oder Michael Woodford propagiert.

Die FTPL besagt, dass eine Verschlechterung der erwarteten Haushaltslage des Staates bereits in der Gegenwart zu einem Anstieg des allgemeinen Preisniveaus führen kann. So wie der Aktienkurs die erwarteten diskontierten Dividenden spiegelt, reflektiert das Preisniveau gemäss FTPL die erwarteten diskontierten Primärüberschüsse des Staates. Fiskalpolitiker legen aber nicht Primärüberschüsse in der Absicht fest, die Budgetgleichung des Staates für ein spezifisches Preisniveau zu erfüllen – die Kausalität verläuft entgegengesetzt.

Wann und in welcher Stärke sich verschlechterte Aussichten für den Staatshaushalt in Inflation äussern, hängt gemäss FTPL unter anderem von der Laufzeitenstruktur der Staatsschulden ab. Dazu zwei Szenarien: In beiden ist der Barwert der staatlichen Verbindlichkeiten der gleiche, sie unterstellen eine unerwartete Verringerung der diskontierten Primärsalden, und in beiden Szenarien ergibt sich eine Veränderung der Zinsstruktur. Der einzige Unterschied: Im ersten Fall werden alle Staatsschulden in der Gegenwart fällig, während sie im zweiten Fall eine lange Restlaufzeit aufweisen.

Die Verringerung der Primärsalden schlägt sich im ersten Szenario eins zu eins in einer Erhöhung des Preisniveaus nieder. Im zweiten Szenario ist dies nicht der Fall, denn aufgrund der neuen Zinsstruktur ändert sich auch der Marktwert der Nominalschuld.

Auch in Bezug auf die Erfolgsaussichten konventioneller Geldpolitik lassen sich erstaunliche Schlussfolgerungen ziehen. Während aus neukeynesianischer Sicht eine aggressive Zinspolitik ratsam scheint, um Inflationsgefahren zu bekämpfen, kann dies in einem FTPL-Umfeld mit hohen Staatsschulden durchaus kontraproduktiv wirken. Denn hohe Zinsen lassen die Schulden in der Zukunft weiter steigen und bedrohen daher die Preisstabilität noch mehr. Aus Sicht der FTPL kann konventionelle neukeynesianische Zinspolitik daher eine sich selbst verstärkende Inflationsspirale auslösen.

In einer Welt, die den Gesetzen der FTPL gehorcht, ist die Geldpolitik weit weniger mächtig als gemeinhin vermutet. Sie kann zwar den nominellen (und bei Preisrigiditäten auch den realen) kurzfristigen Zins bestimmen, doch mittel- und langfristig ist die Zentralbank ohne die tatkräftige Unterstützung der Fiskalbehörden machtlos, was die Kontrolle über das Preisniveau betrifft. Unabhängigkeit der Zentralbank allein genügt also nicht, um Preisstabilität zu gewährleisten. Vielmehr muss sich auch die Fiskalpolitik nach der Geldpolitik ausrichten.

Inflation entwertet Schulden

Müssen wir die FTPL ernst nehmen? Trotz massiver Staatsverschuldung und anhaltend hoher Defizite in zahlreichen (entwickelten) Ländern scheint das wirtschaftliche Umfeld eher deflationär als inflationär. Ausserordentlich tiefe Zinsen auf Staatsanleihen deuten darauf hin, dass der Markt den Regierungen zutraut, ihre Finanzprobleme in den Griff zu bekommen. Kritiker der FTPL verweisen insbesondere auf Japan, das trotz hoher Staatsverschuldung seit zwei Jahrzehnten mit deflationären Tendenzen kämpft.

Doch diese Beobachtungen stehen nicht zwingend im Widerspruch zur FTPL. Die gegenwärtige Fiskalpolitik muss sich nicht unbedingt mit der künftigen decken. Hohe Primärdefizite könnten mit stabilen Preisen einhergehen, solange sie von der Erwartung begleitet werden, dass der Staat künftig Primärüberschüsse erzielt.

Auch historisch betrachtet gibt es Episoden, die mit dem Basisszenario der FTPL vereinbar erscheinen. So stützte z. B. in den Zwanzigerjahren die Banque de France die Preise von Staatsanleihen, in den Vierzigerjahren verfolgte das Federal Reserve in den USA eine ähnliche Politik, und in Grossbritannien stiegen während der Napoleonischen Kriege bis zur Wiedereinführung des Goldstandards die Preise. Auf ernsthafte fiskalische Probleme folgten häufig Phasen hoher Inflationsraten, und ohne Fiskalprobleme blieb das Preisniveau regelmässig stabil.

Dennoch: Das zentrale Szenario der FTPL taugt kaum als allgemein gültige Erklärung der wirtschaftlichen und politischen Realität. Trotz erheblicher politischer Widerstände ringen sich Regierungen immer wieder dazu durch, die Fiskalpolitik angesichts steigender Verschuldungsquoten anzupassen. Beispiele bieten die USA in den Achtziger- und Neunzigerjahren, die Schweiz mit der Schuldenbremse und viele andere Länder.

Ob die hohe und steigende Verschuldung vieler Staaten beim Ausbleiben von Schuldenschnitten zu Inflation führen wird, hängt gemäss FTPL davon ab, ob die Regierungen der Länder gewillt und fähig sind, Steuern anzuheben oder Staatsausgaben zu senken. Dagegen spricht zwar, dass sich typischerweise starke politische Kräfte gegen Steuererhöhungen oder Ausgabensenkungen stemmen und zum Teil auch die Infrastruktur fehlt, um höhere Steuereinnahmen zu erzielen. Aber die Vergangenheit zeigt auch, dass es trotz starker Widerstände häufig doch zu notwendigen Anpassungen kommt.

Die FTPL erhebt nicht den Anspruch, genaue Inflationsprognosen zu liefern, und ihr theoretischer Gültigkeitsbereich ist relativ stark eingeschränkt. Dennoch ist sie nützlich. Sie dient als Warnung vor allfälligen inflationären Wirkungen von Staatsschulden in Kombination mit fallenden Primärüberschüssen. Unabhängig davon, ob Regierungen die Budgetgleichung des Staates als Restriktion betrachten oder nicht: Staatsschulden verschwinden nicht von allein. Sie müssen bedient, ihre Eigentümer enteignet oder aber sie müssen durch Inflation entwertet werden. Keine dieser Varianten ist gratis zu haben.

Monetaristische SichtGemäss monetaristischer Doktrin ist Inflation das Ergebnis eines Überangebots von Geld relativ zur Menge angebotener Güter und Dienstleistungen. Auf den ersten Blick scheint diese Sichtweise zu implizieren, dass die stark expansiven geldpolitischen Massnahmen vieler Zentralbanken im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise zu Inflation führen sollten. Doch dies stimmt nur bedingt.

Zentral für die Inflation ist nicht die von den Zentralbanken in Umlauf gebrachte Notenbankgeldmenge, sondern vielmehr die Gesamtgeldmenge, die aufgrund der Geldschöpfung durch das Geschäftsbankensystem ein Vielfaches der Notenbankgeldmenge beträgt. Der Geldmultiplikator — das Verhältnis von Gesamtgeldmenge zur Notenbankgeldmenge — fiel in den letzten Jahren, da die Banken aufgrund der verbreiteten Unsicherheit mehr Liquidität bei den Zentralbanken vorhielten. Daher schlug sich die expansive Politik der Zentralbanken nur in einer weitaus weniger dramatischen Ausweitung der Gesamtgeldmenge nieder.

Vor diesem Hintergrund bestünde Gefahr für die Preisstabilität erst dann, wenn eine veränderte Geschäftspolitik der Banken den Geldmultiplikator tendenziell wieder ansteigen liesse und die Zentralbanken es gleichzeitig versäumten, das Geldangebot im Gegenzug zu verknappen. Dass Zentralbanken die für eine solche Verknappung erforderlichen Instrumente zur Verfügung hätten – angefangen von der Herausgabe verzinslicher Schuldtitel über die Erhöhung des Mindestreservesatzes bis zur Verzinsung von Sichteinlagen der Geschäftsbanken –, bestreiten weder Monetaristen noch andere Geldtheoretiker. Sorge bereitet eher, ob sie diese Instrumente auch rechtzeitig und im richtigen Ausmass einsetzen würden, zumal sich dagegen politischer Widerstand regen dürfte.
Neukeynesianische SichtGemäss neukeynesianischer Sicht sind Preise und Löhne in der kurzen Frist rigide, die Inflationsrate reagiert daher nur verzögert auf Veränderungen im wirtschaftlichen Umfeld. Anpassungen des kurzfristigen nominellen Zinses wie beispielsweise des Dreimonats-Libors wirken sich demnach direkt auf den realen Zins aus. Dies eröffnet der Geldpolitik die Möglichkeit, die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern zu beeinflussen, und infolgedessen auch die Konjunktur und die mittelfristige Inflationsentwicklung. Die Aufgabe der Zentralbank besteht vor diesem Hintergrund darin, die Zinsen so zu steuern, dass die resultierende gesamtwirtschaftliche Nachfrage mit dem Angebot Schritt hält und das Preisniveau stabil gehalten wird. Besondere Bedeutung kommt hierzu der Kontrolle der Inflationserwartungen und zu diesem Zweck einer transparenten und glaubwürdigen Geldpolitik zu. Diese äussert sich einerseits in nachvollziehbaren, quasi regelgebundenen Zinsentscheiden und andererseits in Erklärungen über die zu erwartenden zinspolitischen Massnahmen, der sogenannten Forward Guidance.

Ebenso wie bei den Monetaristen spielen Staatsdefizite und -schulden in der neukeynesianischen Analyse der Inflation keine wichtige Rolle. Implizit unterstellen beide Schulen, dass fiskal- und geldpolitische Entscheidungsträger unabhängig voneinander agieren können. Selbst aus hartnäckigen Staatsdefiziten erwächst demzufolge kein Druck auf die Zentralbank, sie mithilfe der «Notenpresse» zu finanzieren.

 

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