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18:21 Uhr - 28.07.2020

Daniel Koch: «Après-Ski wie früher können Sie vergessen»

Der ehemalige Leiter übertragbare Krankheiten im BAG sagt, was jetzt nötig ist, um eine zweite Welle zu verhindern. Sie würde erneut Milliarden kosten.

Mitte September erscheint Ihr Buch «Stärke in der Krise». Was ist darin zentral?
In meiner Philosophie, um eine Pandemie zu bewältigen, steht die Aufklärung der Leute im Zentrum. Das Wichtigste ist, dass die Bevölkerung die Massnahmen mitträgt; dass die Menschen wissen, weshalb einzelne Schritte beschlossen wurden. Das ist viel wichtiger als Verbote. Befehlen können Sie das Verhalten nicht. Es ist wichtig, dass die Menschen verstehen, weshalb sie die Hände waschen und Distanz halten sollen. Viel wichtiger als zu sagen, sie müssten eine Maske tragen.

Kritiker bemängeln das Hin und Her des Bundes beim Tragen einer Maske.
Wir hatten am Anfang sicher zu wenige Masken. Die Vorratshaltung war nicht so, wie wir uns das gewünscht hätten. Das hat nicht nur mit den Masken zu tun, sondern auch damit, wie die Welt und die Wirtschaft funktionieren. Alles ist «just in time». ­Lagerhaltung war in den vergangenen zehn Jahren nicht in Mode. Klar kann man ­sagen, die Schweiz hatte zu wenig Vorrat, aber alle hatten zu wenig Vorrat.

Wären mehr Masken da gewesen, hätte der Bund früher eine Tragepflicht erlassen?
Nein, Masken sind ein Hilfsmittel. Viel wichtiger war es zu erklären, wie die Krankheit übertragen wird und daraus abgeleitet zu empfehlen, Abstand zu halten und die Hände zu waschen. Auch jetzt löst die Maske allein das Problem nicht. Dort, wo es sinnvoll ist, eine zu tragen, wie im öffent­lichen Verkehr, wo die Distanzregeln nicht eingehalten werden können, ist es angebracht, eine Pflicht einzuführen. Dann ist es für alle klar. Vielleicht hätte man die Pflicht einen Monat früher einführen können, als der öffentliche Verkehr hochgefahren wurde.

Stattdessen gab es eine Empfehlung, an die sich kaum jemand gehalten hat.
Eigentlich wussten die Leute, dass Masketragen besser wäre. Vielleicht haben sich viele geniert oder sie dachten, die anderen trügen ja auch keine. Das hat wohl eine ­Negativspirale ausgelöst. Jetzt tragen alle eine. Die Tragepflicht hat für Klarheit gesorgt.

Wird die Schweiz nach der Krise grössere ­Lager an Masken und Hygienemitteln führen?
Ja, es geht sogar weiter. Die Wirtschaft wird aus dieser Situation lernen, dass für gewisse Produkte Vorratshaltung die bessere Lösung ist, als immer «just in time» herzustellen. Der Warenhandel ist sehr ver­letzlich, weil er sehr international geworden ist. Im medizinischen Bereich haben wir das nun eins zu eins gesehen. Aber dasselbe gilt für diverse andere Branchen, in denen die Firmen gemerkt haben, dass es nicht günstig ist, wenn sie die Produktion stilllegen müssen, nur weil ein Teil des Produkts nicht geliefert werden kann.

Mehr Lagerhaltung und heimische Produktion bedeuten mehr Kosten. Müsste der Bund hier punktuell unter die Arme greifen?
Nein, gerade bei solchen Dingen, ist die ­öffentliche Hand sicher nicht geeignet, die Wirtschaft zu steuern. Wir haben viele Beispiele gesehen, in denen Staaten das versucht haben. Das hat meist schlecht funktioniert. Eine Lehre aus der Krise könnte aber sein, dass der Preis nicht das Einzige ist, was zählt. Zuverlässigkeit und Liefer­sicherheit sind Qualitäten, die in Zukunft vielleicht mehr im Mittelpunkt stehen. Ich glaube, die Schweiz tut gut daran, an ihrer freien Marktwirtschaft festzuhalten. Sie hat sich bewährt.

Laut dem Epidemiologen Christian Althaus wären 1600 Leben gerettet worden bei einem eine Woche früheren Lockdown.
Das sind epidemiologische Modellrechnungen. Es gibt in der Epidemiologie aber viele Faktoren, die wir nicht kennen. Man darf die Modelle deshalb nicht überschätzen, gerade was die zeitlichen Aussagen betrifft. Bei den Massnahmen müssen wir immer fragen, ob sie überhaupt denkbar oder möglich gewesen wären. Hier spielen politische und wirtschaftliche Faktoren hinein.

Welche?
Hätten die Schweizer und Schweizerinnen eine Woche früher, als wir noch wenige hundert Coronafälle hatten, überhaupt mitgemacht, wenn wir sie aufgefordert hätten, daheim zu bleiben? Solche Fragen können die Modelle nicht beantworten. Sie ersetzen nicht eine genaue Evaluation. Aus meiner Sicht waren wir sehr schnell. Die Schweiz hat als erstes Land in Europa Grossveranstaltungen mit mehr als 1000 Personen verboten. Das war schon ein ­Riesenschritt. Man hat den Baslern zwei Tage vor Beginn die Fasnacht abgestellt. Das war an der Grenze des Akzeptablen. Stellen Sie sich vor, wir hätten den Leuten schon eine Woche vorher gesagt, sie sollen zu Hause bleiben.

Was wäre passiert?
Sie hätten vermutlich gesagt, «Jetzt spinnen die in Bern!». Und vielleicht hätten die Menschen sich nicht daran gehalten. Dann hätten wir möglicherweise auch die ­Fasnacht nicht stoppen können. Die zeit­liche Verhängung einer Massnahme steht immer im Zusammenhang mit der Lage. Zentral ist die potenzielle Akzeptanz. Es wäre unsinnig, eine Massnahme durch­drücken zu wollen, wenn die Akzeptanz nicht da ist. Ich halte die Berechnungen von Herrn Althaus für interessant, aber sie ersetzen nicht eine genaue Evaluation, die politische und gesellschaftliche Realitäten miteinbezieht.

Im März war die Rate der Neuinfektionen während zwei bis drei Wochen nirgends ­höher als in der Schweiz. Danach gingen die Fallzahlen schneller runter als in den meisten anderen Ländern. Wie erklären Sie das?
Die hohe Ansteckungsrate zu Beginn hat vor allem mit der Nähe zu Italien zu tun. Als es bei uns losging, waren in Norditalien ­bereits sehr viele Menschen infiziert. Das hat bei uns zu Infektionsketten geführt, die von Anfang an nicht zu kontrollieren ­waren. Vor allem das Tessin und die Westschweiz waren betroffen. Würden wir ­lediglich die Fallzahlen im Kanton Thurgau betrachten, stünden wir gleich da wie die Österreicher.

Und das schnelle Abflachen?
Ich bin überzeugt, das hat damit zu tun, dass wir die Bevölkerung sehr schnell ­richtig informieren konnten und dass die Schweizer Bevölkerung sehr diszipliniert ist. Es ist auch rasch gelungen, die Risikogruppen zu schützen. Es hat aber auch damit zu tun, dass unsere Familienstrukturen anders sind als im Mittelmeerraum. Bei uns ist es einfacher, den Grosseltern zu ­sagen, dass sie jetzt die Kinder und ­Grosskinder eine Weile nicht besuchen dürfen. Im ­Mittelmeerraum ist das viel schwieriger.

Der Bund wurde aber kritisiert, er hätte ­früher auf ein Besuchsverbot in den Altersheimen hinwirken sollen.
Die Alters- und Pflegeheime sind ein ganz schwieriges Kapitel. Einerseits führt ein Ausbruch der Krankheit automatisch zu einer Katastrophe. Andererseits ist das ­Einsperren der Alten nicht das, was wir uns in unserer Gesellschaft erwünschen. Am Ende muss der Heimleiter abwägen. Viele waren beim Öffnen noch lange sehr strikt. Darunter haben auch viele alte Leute ­gelitten. Eine generelle Massnahme wie ein schweizweites Besuchsverbot erachte ich als problematisch. Ich finde es deshalb gut, dass die Kompetenz dazu in kantonaler Hand liegt. Man muss auch wissen, dass in den Pflegeheimen die durchschnittliche Überlebenszeit zwei Jahre beträgt. Wollen Sie diese Leute noch ein Jahr einsperren?

Der Lockdown hat enorm viel Geld gekostet. Ginge es bei einem nächsten Mal auch mit weniger drastischen Einschränkungen?
Der Lockdown à la Schweiz ist nicht vergleichbar mit dem, was in Spanien oder Italien gemacht wurde. Er hat gezeigt, dass sich jede Investition lohnt, um eine solche Epidemie zu verhindern. Ich glaube deshalb auch, dass es sich lohnt, viel zu investieren, um eine zweite Welle zu verhindern.

Weshalb?
Wenn es zu einer zweiten Welle kommt, wird es nicht mehr möglich sein, dieselben Massnahmen in derselben Grössenordnung einzuführen. Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben: Wenn eine zweite Welle kommt, wird auch diese Milliarden kosten. Das zu verhindern, muss das oberste Ziel sein.

Was muss getan werden?
Ich bin überzeugt, dass das in der Schweiz möglich ist. Die Logik ist simpel: Wir ­müssen die Fälle früh erfassen, damit wir die Infizierten isolieren und ihre Kontakte in Quarantäne setzen können. Über 100 Fälle pro Tag, wie wir sie in den vergangenen Wochen registrieren, sind zu viele.

Es wird aber nicht so viel getestet, das Contact Tracing ist oft langsam, und die Quarantänebestimmungen werden missachtet.
Die Tests müssen einfacher werden, es muss mehr und breiter getestet werden und auch das Contact Tracing muss schneller, die Isolation und Quarantäne effizienter werden. In diesen Bereichen kann man momentan gar nicht genug investieren. Wenn Sie einen Fall erst am dritten statt am ersten Tag entdecken, kommt das zu spät.

Wie sieht der perfekte Coronatest aus?
Ideal wäre es, wenn man selbst zu Hause einen Rachenabstrich machen und einsenden könnte. Auf jeden Fall sollten die Hindernisse fürs Testen kleiner werden. In Deutschland werden nun Tests an Flug­häfen angeboten. Noch unklar ist, ob der Staat das zahlt. In solchen Diskussionen muss ich sagen, es lohnt sich immer, das zu bezahlen. Denn im Vergleich zu den Kosten einer zweiten Welle ist es eine Kleinigkeit. Wir müssen die Infektionsketten besser unter Kontrolle kriegen, sonst wird es im Herbst schwierig.

Weshalb?
Zurzeit können wir eine grosse Welle auf der südlichen Halbkugel beobachten, wo jetzt Winter herrscht. Südafrika explodiert, Südamerika explodiert. Neuseeland, wo tiefster Winter herrscht, hat es hingegen unter Kontrolle. Die haben zwei, drei Fälle pro Tag. Das muss das Ziel sein: die totale Kontrolle während des Winters.

Ist das nicht illusorisch?
Nein, wir haben Zeit. Wir sind noch ­Monate entfernt vom Winter.

Müsste man dann nicht einige Massnahmen wieder einführen, etwa Veranstaltungen verbieten, Bars und Clubs schliessen?
Gewisse Bedürfnisse bestehen nun mal in einer Gesellschaft. Diese Bedürfnisse ­werden irgendwie befriedigt, ob legal oder illegal. Es ist besser, die Bedürfnisse unter Kontrolle zu befriedigen. Die junge Generation wird wegen des Coronavirus nicht sagen, «Wir wollen kein Sozialleben mehr. Wir wollen niemanden mehr treffen.» Das gehört einfach zum Jungsein. Ich bin aber der Meinung, dass die Schweiz und die Wirtschaft nun auf gewisse Bars und Clubs verzichten können. Einfach pauschal wieder zu schliessen, fände ich falsch.

An welche Bars und Clubs denken Sie?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Vergangene Wintersaison hatten wir in Österreich den Fall Ischgl, wo sich Dutzende Menschen im Après-Ski angesteckt haben. Selbstverständlich müssen wir daraus Lehren ­ziehen, selbstverständlich muss man den Wintersportorten jetzt schon sagen, dass sie es vergessen können, Après-Ski wie in vergangenen Jahren durchzuführen. Das wird nicht gehen. Sie sollten jetzt schon überlegen, was möglich und was nicht möglich sein wird.

Was können Unternehmen generell machen, um einer zweiten Welle vorzubeugen?
Sich vorbereiten, vorbereiten und noch mal vorbereiten. Ich rate den Unternehmen, sich schon jetzt zu überlegen, ob sie im Herbst und Winter wieder mehr Home ­Office machen können. Sitzungen sollten wieder vermehrt online stattfinden. Das kann man schon jetzt planen. Wenn die zweite Welle dann nicht kommt, umso besser.

Dann wären die Vorbereitungen umsonst gewesen?
Es gilt zu bedenken, dass im Herbst und Winter andere respiratorische Krankheiten zirkulieren. Dann wollen sie in ihrem ­Betrieb nicht ein Schnupfenvirus streuen. Jeder Zweite, der zur Tür reinkommt und einmal hustet, steht sofort unter Coronaverdacht. Das ist unangenehm.

Und was kann jeder für sich tun?
Genau dasselbe. Jeder kann jetzt schon überlegen, wie er oder sie das Ansteckungsrisiko vermindert. Die Bevölkerung hat im Frühling gezeigt, dass sie weiss, wie das geht. Jeder kann sich also jetzt schon überlegen, welche Aktivitäten sie oder er einschränken wird. Ich würde beispielsweise jungen Eltern davon abraten, für den Winter die Grosseltern als Hütedienst fest einzuplanen. Das wäre keine gute Idee, denn die Grosseltern werden sich im ­Winter sicher wieder etwas mehr zurücknehmen müssen. Aber wir wollen sicher nicht mehr so weit gehen wie im Frühling.

Was können Unternehmen langfristig tun?
Vieles ist ungewiss. Für Schweizer Unternehmen ist sicher wichtig, wie andere Länder, ihre Exportmärkte, die Krise in den Griff bekommen. Das ist sehr schwierig vorauszusagen. Vielleicht lohnt es sich, einige ­Abhängigkeiten jetzt schon zu vermindern.

Was ist aktuell Ihre grösste Befürchtung?
Dass der Impfstoff nicht das halten wird, was wir uns erhoffen und dass die Immu­nität der Bevölkerung langfristig viel schwächer sein wird und wir uns über Jahre immer mit denselben Problemen werden rumschlagen müssen. Die Schweiz wird das schaffen. Ich denke hier aber an Länder, die nicht unsere Ressourcen ­haben, vor allem Schwellenländer. Am Ende zahlen solche Epidemien immer die untersten Schichten der Gesellschaft. Das sollten wir zu verhindern suchen. Die grosse Gefahr ist, dass durch die Pandemie die Armut extrem steigt. Und, das wissen wir nun wohl alle: Je ärmer die Welt ist, desto schlechter geht es auch den gut ­situierten Ländern.  

Manche hoffen auf einen Impfstoff noch vor Ende Jahr. Ist das realistisch?
Ich bin kein Prophet, aber ich glaube, es ist nicht realistisch.

Wenn ein Impfstoff nur begrenzt wirkt, ist es dann nicht fast wichtiger, wirksame Medikamente zu haben?
Ich würde nicht das eine gegen das andere ausspielen. Es braucht alles Mögliche zur Bekämpfung des Virus. Ich betone noch einmal: Im Moment lohnt sich jede Investition in dem Bereich. Selbst wenn wir einen Impfstoff haben, der einigermassen gut wirkt, wird es immer Fälle schwerer Erkrankungen geben. Es liegt auf der Hand, dass wir Medikamente brauchen, die besser wirken als die bestehenden.

Was geben Sie der Schweiz für den 1. August mit auf den Weg?
Die Schweiz ist gut aufgestellt, aber häufig stehen Kostenfragen zu sehr im Vordergrund. Wenn es um Coronatests geht, wird sofort gefragt, «Aber was kostet das?». Bei Tracing-Mechanismen kommt sofort der Einwand, das koste viel Geld. Mir scheint, oft geht dabei das Gesamtbild vergessen. Wenn wir es als Investition ansehen würden im Verhältnis zu den Kosten, die wir verhindern können, dann lohnt sich alles, das hilft, eine zweite Welle zu verhindern.

 

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