Reto Jaeggli, Leiter Advisory bei Crédit Agricole, gefallen Aktien wie Nestlé, Roche und Syngenta, wie er im Interview mit «Finanz und Wirtschaft» erläutert.
Herr Jaeggli, wie steht es um die europäische Wirtschaft?
Es geht ihr besser, als vermutet wird, und vor allem besser, als wir vor sechs oder zwölf Monaten erwartet hatten. Sichtbar ist das auch an verschiedenen Indikatoren, wie dem Economic Surprise Index oder dem Zinsniveau – die zehnjährigen Zinsen in Europa sind auf sehr tiefem Niveau. Die Erwartungen unserer Ökonomen bezüglich des Wachstums in Europa liegen über dem Konsens.
Wie steht Europa im Vergleich zu anderen Weltregionen da?
Natürlich ist das Wirtschaftswachstum in Europa schwächer, aber wir kommen aus einer tiefen Rezession. Die Konjunkturindikatoren in Deutschland schwächeln ein bisschen, aber in Südeuropa, in der Schweiz und in Grossbritannien zeigen sie nach oben.
Aber wie steht es nun mit der Wirtschaft in anderen Regionen der Welt, etwa in Nordamerika oder Asien?
Unsere Ökonomen haben die Wachstumsrate für die US-Wirtschaft für 2014 von 2,5 auf 1,9% gesenkt, und die Möglichkeit einer weiteren Reduktion besteht durchaus. Da die Zahlen zum Bruttoinlandprodukt im zweiten und dritten Quartal allerdings stark sein dürften, besteht die Gefahr, dass sich die Investoren auf ein rasches Handeln der US-Zentralbank vorbereiten. Dies wäre unseres Erachtens ein Fehler. Wir erwarten keine Zinserhöhung des Federal Reserve vor dem zweiten Semester 2015. Für China erwarten wir ein solides Wachstum von 7,3 bis 7,4%, was ebenfalls von den kürzlich publizierten Einkaufsmanagerindizes unterstützt wird. Die grösste Umgestaltung einer Volkswirtschaft aller Zeiten von einer Export- zu einer Konsumwirtschaft benötigt Zeit, wird aber schliesslich zum Erfolg führen. Wir sehen China weiterhin als einen der globalen Wachstumstreiber
Europa wächst weniger als die USA. Trotzdem bevorzugen Sie europäische gegenüber amerikanischen Aktien. Weshalb?
Wir gehen davon aus, dass der Dollar gegenüber dem Euro zulegen wird. Das dürfte europäischen Unternehmen einen positiven Impuls liefern. Ich wäre nicht erstaunt, wenn mehr und mehr europäische Gesellschaften den Analystenkonsens überbieten. Ich glaube deshalb, dass die Analysten ihre Erwartungen für die nächsten zwei Jahre nach oben revidieren werden. Der US-Markt ist in den letzten fünf Jahren beinahe 200% gestiegen und ist heute nicht mehr billig. Er befindet sich knapp über dem historischen Durchschnitt, was aber auch noch nicht teuer ist. Wir sind vorsichtig optimistisch für die amerikanischen Indizes, wir sehen in den USA bis zum Jahresende noch 3 bis 4% Potenzial, in Europa dagegen 6 bis 7%.
Sie stehen den Schwellenländern kritisch gegenüber. Warum?
Die Schwellenländer weisen heute ein schwächeres Wachstum auf als noch vor kurzem. China bewerten wir positiv, aber das Land befindet sich in einer grösseren Transformationsphase. Wir glauben, dass die Aktienmärkte dort und anderswo im Moment wenig Potenzial bieten. In Ländern wie Brasilien oder Russland bestehen massive strukturelle Probleme, die nicht von heute auf morgen gelöst werden können. Dazu kommt, dass diese Märkte in den vergangenen Wochen gestiegen sind – doch dies war eher spekulativer Natur und beruht nicht auf einem soliden Fundament. In Schwellenländern spielen wir nur gewisse Themen, etwa das Internet in China oder Baumaterialien in Mexiko. Dort gefällt uns beispielsweise der Zementhersteller Cemex gut. Im Reich der Mitte empfehlen wir Baidu, das chinesische Pendant zu Google (GOOGL 604.7 -0.08%).
Wie schätzen Sie die Aussichten des Schweizer Aktienmarktes ein?
Weiterhin sehr gut. Zusammen mit Italien, Spanien und England gehört die Schweiz zu unseren favorisierten Märkten. Interessanterweise hat der SMI (SMI 8631.98 0.31%) in den letzten zwölf Monaten konsolidiert, während andere Indizes auf Höchstwerte gestiegen sind. Auch charttechnisch sieht der SMI sehr gut aus. Schweizer Blue Chips wie Nestlé (NESN 69.65 -0.29%), Roche (ROG 268.3 0.68%) oder Zurich, aber auch zyklische Unternehmen wie Syngenta (SYNN 328.9 1.64%) oder SGS (SGSN 2023 -0.64%) sind im Moment attraktiv.
Deutschland und Frankreich, die beiden grössten Volkswirtschaften der Eurozone, haben Sie bisher nicht erwähnt. Wie beurteilen Sie diese Märkte?
Deutschland bleibt weiterhin die Lokomotive der europäischen Wirtschaft. Allerdings haben unsere Ökonomen festgestellt, dass das Tempo in Deutschland klar zurückgeht. Der Dax auf 10 000 offeriert ein Risiko-Chancen-Profil, das weniger interessant ist als das der Aktienindizes in der Schweiz oder England. In Frankreich sind wir neutral in Bezug auf den Bankensektor. Wir sehen Frankreich als ein Land mit wenigen strukturellen Reformen. Das bewerten wir negativ. Wenn man die Einkaufsmanagerindizes für den Dienstleistungssektor und für das verarbeitende Gewerbe betrachtet, ist Frankreich immer das Schlusslicht der Rangliste. Obwohl auch viele französische Unternehmen ihren Umsatz ausserhalb Europas erzielen, glauben wir trotzdem, dass die Schweiz, England und Staaten der europäischen Peripherie, also Italien oder Spanien, bessere Möglichkeiten bieten als Frankreich.
Gibt es in Europa Branchen, die besser dastehen als andere?
Dem europäischen Energiesektor geht es momentan sehr gut. Nicht nur, weil die Energiepreise etwas gestiegen sind, sondern auch weil die Unternehmen neuerdings viel mehr Wert auf die Profitabilität ihrer Projekte legen und nicht nur Wachstum um jeden Preis anstreben. Zudem wird eine freundliche Aktionärspolitik verfolgt, die sich in höheren Dividenden und Aktienrückkäufen ausdrückt. Mit Dividenden von 5 bis 5,5% bietet der Energiesektor auch für konservative Anleger attraktive Möglichkeiten.
Auf welche Energieaktien setzen Sie?
In Europa auf die italienische Eni (ENI 19.91 0.45%), die spanische Repsol (REP 18.885 2.36%) und die englische BP. Das interessanteste Beispiel ist der Ölkonzern Repsol, der sich aus Argentinien zurückgezogen hat, deshalb gegenwärtig auf einem sehr hohen Barmittelbestand sitzt und ihn sehr wahrscheinlich für kleinere Akquisitionen verwenden wird, aber vermutlich auch für aktionärsfreundliche Aktionen. Repsol, aber auch Eni mit einer Dividende von 5% sind ausgesprochen attraktiv. Diese Aktien wiesen in den vergangenen Jahren eine wenig berauschende Performance auf. Jetzt findet jedoch eine Sektorrotation in die Energiebranche statt.
In welchen anderen Sektoren bieten sich momentan Chancen für Anleger?
Im amerikanischen Markt haben mehrere Sektoren seit Jahresbeginn 10 bis 15% korrigiert, etwa Automobilindustrie, Biotechnologie oder Internet. Diese Sektoren stehen aber längerfristig fundamental sehr gut da. Die gegenwärtige Sektorrotation erlaubt es dem Anleger nun, in eine Schwächephase hinein zu kaufen. Das sollte man als Möglichkeit nutzen.
Welche Titel würden Sie in diesen Bereichen empfehlen?
In den USA die Automobilindustrie. General Motors (GM 36.2 -3.23%) sorgt mit den Rückkaufaktionen momentan zwar für negative Schlagzeilen, aber das ist eine attraktive Einstiegsgelegenheit. General Motors ist gut in den wachstumsstarken nordamerikanischen und chinesischen Märkten vertreten. Auch wird das Management immer aktionärsfreundlicher. In der Biotechnologie ebenfalls amerikanische Titel wie Biogen (BIIB 337.64 0.01%) Idec oder Gilead (GILD 90.98 0.71%) Sciences. Im Internetsektor Facebook (FB 75.09 5.33%), auch wenn die Aktien oft als zu teuer verschrien werden – doch da sind wir anderer Meinung. Die Google-Papiere sind ebenfalls interessant. Die Gesellschaft ist hervorragend geführt und besitzt eine sehr positive und kreative Unternehmenskultur. Weniger bekannt, aber ebenfalls attraktiv ist das Preisvergleichsportal Priceline. Im Internetsektor gibt es viele Möglichkeiten, aber eher für Wachstumsanleger und nicht für konservative Investoren.
Sie haben von Sektorrotation gesprochen, aber vor allem die USA erwähnt. Ist Sektorrotation auch in Europa zu beobachten?
Etwas weniger, da in Europa die Korrelation zwischen den Sektoren höher ist. Aber es gibt auch auf dem alten Kontinent gewisse Sektoren, die korrigiert oder eine schlechtere Performance als der Gesamtaktienmarkt gezeigt haben. Beispielsweise die Pharmaindustrie – nicht in der Schweiz, aber zum Beispiel Sanofi in Frankreich hat eine Korrekturphase durchlebt und zeigt sich auf dem heutigen Niveau sehr interessant. Allgemein sehen wir in Europa in den letzten zwei, drei Monaten einen Trend zu Value-Aktien. Das rührt vielleicht auch daher, dass die Amerikaner in Europa investieren, und historisch gesehen kaufen sie eher Value- als Wachstumstitel. Das sehen wir im Gesundheitsbereich, in der Telekommunikation und im Energiesektor, wo wir grössere Käufe aus den USA beobachten. In diesen Industrien steckt noch weiteres Potenzial.
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