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07:43 Uhr - 30.12.2021

Wie die Finanzindustrie junge Menschen ködert

In den sozialen Medien geben Heranwachsende Anlagetipps. Einige verdienen damit viel Geld. Und nicht alle Follower wissen, dass die «Finfluencer» von Firmen bezahlt werden.

Kryptos? Eine komplizierte Sache? Nein. «Kryptos sind wie Ben und Jen», schwärmt Haley Sacks, blendet ein Foto der Filmstars Ben Affleck und Jennifer Lopez ein und reisst die schwarz umrandeten Augen auf: «Sie sind aufregend, jeder spricht über sie, und niemand weiss, ob alles wirklich echt ist.»

Klar, Kryptowährungen schwankten stark im Wert. Was aber, wenn sie doch die Zukunft seien? «Wenn sie sich als Seelenverwandte erweisen» wie Ben und Jen, als exakt das Investment, das zu mir passt? Will man diese Chance verspielen? Zum Glück, sagt Sacks, gebe es da den Investmentdienst Wealthfront, der es Kunden jetzt ermögliche, in Bitcoin (Bitcoin 46'885.00 +1%) und Ethereum zu investieren, bis zu einer bestimmten Obergrenze. Damit sei man dabei, wenn die Party abgehe, aber vor allzu grossen Verlusten geschützt. «Und vergesst nicht, mir zu folgen», flötet die junge Frau noch, bevor das Video endet.

Promitratsch und Geldanlagen

Allein bei Instagram haben bisher rund 65’000 Menschen das Filmchen angeschaut. Es ist eines von Hunderten, die «Mrs. Dow Jones» auf verschiedenen Plattformen hochgeladen hat: Wo andere Frauen Schmink-, Kleidungs- oder Fitnesstipps geben, verbindet Sacks Promitratsch geschickt mit Grundsatzfragen der Geldanlage. Etwa wie man die Höhe der Miete nachverhandelt, welche Handtaschenmarken wertbeständiger sind als Aktien, oder was es eben mit Bitcoin und Co. auf sich hat. «Mrs. Dow Jones», wohnhaft in New York, ist Influencerin für Finanzprodukte oder kurz: Finfluencerin.

Für die Geldindustrie waren Teenager und junge Erwachsene lange Zeit ein Kundenpool, in den es kaum ein Hineinkommen gab. Geldanlage, Kapitalbildung, Altersvorsorge – das sind Vokabeln, die für junge Menschen nach einem Leben klingen, das sie an ihre Eltern erinnert und das sie nicht oder zumindest noch nicht führen wollen.

Seit dem Siegeszug des Smartphones und der sozialen Medien werden sie verstärkt auf das Thema aufmerksam: Statt zum Bankberater zu gehen, können Wertpapiere heute über Apps gehandelt werden, die kaum etwas kosten und einfach zu bedienen sind.

Es ist eine Form des Bankings, die wie gemacht ist für eine Generation, deren erster Impuls «Youtube!» heisst.

Ihre Information erhalten die Nutzer nicht aus dem Bankenprospekt, sondern aus Unterhaltungen in Netzwerken wie Reddit. Wer wissen will, was passiv gemanagte Indexfonds sind und wie man mit Verkaufsverlusten Steuern spart, schaut Instagram- und Tiktok-Videos. Es ist eine Form des Bankings, die wie gemacht ist für eine Generation, deren erster Impuls «Youtube!» heisst, wenn eine Omelette gebraten oder ein kaputter Veloschlauch geflickt werden muss.

Der 24-Jährige verdient mehr als viele Banker

Auch für Austin Hankwitz, der in der Finanzabteilung eines US-Krankenversicherers arbeitete, waren Tiktok-Videos lange Zeit nur ein Freizeitspass – bis er feststellte, dass sich berufliches Wissen und Hobby so glänzend wie gewinnbringend miteinander kombinieren liessen.

Heute hat der 24-Jährige fast 530’000 Follower, arbeitet freiberuflich für mehrere Finanzfirmen und kassiert pro Tiktok-Botschaft 8000 Dollar. Zudem hat er gut 1100 Superfans, die monatlich bis zu 17 Dollar für Extravideos zahlen. Alles in allem kommt der junge Mann auf ein Jahresgehalt von umgerechnet mehr als 518’000 Franken. Damit verdient er besser als viele der Banker, deren Produkte er anpreist.

Je mehr Follower jemand hat, umso interessanter ist er für die neue Garde der Finanzindustrie – sogenannte Robo-Adviser oder Neobroker wie Trade Republic, Scalable oder Wealthfront. Sie gehen auf Finfluencer zu und fragen: «Willst du eine Story mit uns machen?» Der Finfluencer erwähnt den Namen der Firma in einem Post oder Video und bekommt pro 10’000 Follower zum Beispiel 500 Euro.

Auch von Youtube gibt es Geld, da das Netzwerk an der Werbung verdient. Für 1000 Klicks erhalten Finfluencer rund zehn Euro – zehnmal so viel wie in der Mode- oder Kosmetikbranche.

Die Finanzindustrie entdeckt jetzt das Potenzial

«Die Finanzindustrie hat erkannt, welches Potenzial in den sozialen Medien steckt», erklärt Nicolas Kocher, ein deutscher Experte, der Finfluencer berät. Derzeit beschränke sich die Szene weitgehend auf junge Fintechs und Neobroker, «die ohne Youtube, Instagram oder Tiktok kaum denkbar wären». Traditionelle Banken und Direktbanken sind bisher nur sehr vereinzelt vertreten.

Dabei ist das Geschäft auf die drei grossen Videoplattformen aufgeteilt. Auf Youtube, dem etabliertesten der Netzwerke, präsentieren Influencer in der Regel längere Filme. Der Informationsgehalt ist am grössten, die Zielgruppe älter, meist ab 30 Jahren. Auf Instagram sind die Follower mehrheitlich zwischen 25 und 35 Jahren alt.

«Habt ihr gesehen, Elon Musk hat fünf Millionen Dollar in Bitcoin investiert?»

Sie schicken sich meist kurze Nachrichten, die sich um Trendthemen wie Bitcoin, Immobilien oder den Social-Media-wütigen Tesla-Chef Elon Musk drehen. Ein typischer Post lautet etwa: «Habt ihr gesehen, Elon Musk hat fünf Millionen Dollar in Bitcoin investiert?» Das jüngste Publikum ist auf dem chinesischen Netzwerk Tiktok unterwegs, das seit zwei Jahren stark wächst. Hier unterhalten sich 15- bis 25-Jährige meist mit kurzen, selbst gemachten Videos.

Nicolas Kocher hat drei Methoden identifiziert, die in den sozialen Medien funktionieren: Zum einen ist es die Polarisierung, also zum Beispiel das Verbreiten gewagter Thesen zum Bitcoin oder die düsteren Vorhersagen sogenannter Crash-Propheten; zum anderen kommt Humor gut an; und drittens sind da Kanäle, die sich als reine Informationsvermittler sehen.

«Die Leute wissen ganz genau, wer meine Sponsoren sind. Ich bin nicht hier, um irgendjemanden über den Tisch zu ziehen.»

Wie verlässlich sind die Aussagen der Finfluencer, wenn man weiss, dass die am häufigsten erwähnten Firmen für die Nennung ihres Namens zahlen? Legen die jungen «Berater» offen, auf wessen Honorarliste sie stehen? «Selbstverständlich», sagt «Mrs. Dow Jones» Haley Sacks, der bei Instagram fast 230’000 Menschen folgen. «Die Leute wissen ganz genau, wer meine Sponsoren sind. Ich bin nicht hier, um irgendjemanden über den Tisch zu ziehen.»

Auch gebe sie in ihren Videos keine konkreten Anlagetipps, sondern konzentriere sich darauf, eine Art Finanzallgemeinbildung zu vermitteln. «Ich erkläre die Grundsätze der Geldverwaltung und -anlage in der Hoffnung, dass die Leute dieses Wissen nutzen, um für sich selbst die besten Entscheidungen zu treffen», erklärt die 30-Jährige. Selbst wenn Follower Geld verloren hätten, beklagten sie sich zwar – aber nicht über sie, Sacks, sondern über ihr Unglück.

Experte kritisiert sündhaft teure Videocoachings

Nicolas Kocher ist anderer Ansicht: Seiner Erfahrung nach verfolgen 80 bis 90 Prozent der Finfluencer eigene, nicht auf den ersten Blick erkennbare Interessen. Und selbst wo das nicht so ist, sind die Grenzen zwischen harmlosem Grundschulunterricht und Kaffeefahrt oft fliessend: Selbst seriöse Anbieter wie der vor allem bei Frauen beliebte Kanal «Madame Moneypenny» verdienen ihr Geld auch damit, dass sie ihren Followern etwa sündhaft teure Videocoachings anbieten.

Darin bekommt man erklärt, wie man erfolgreicher Wertpapierhändler wird – oder selbst Coach (TPR 40.59 0%). «Die Erzählung, die dabei immer wieder funktioniert, geht so, dass man mithilfe des Coachings nie wieder arbeiten muss», sagt Andreas Beck, ein Portfoliomanager, der auf Youtube mit seinen Erklärvideos selbst zu einer Grösse geworden ist. Viele Influencer verkauften Produkte, die reiner Schwindel seien, Coachings etwa, die nichts bringen.

Ob junge Tiktok- und Instagram-Nutzer solche Warnungen ernst nehmen, ist ungewiss, denn viele Finfluencer haben im Vergleich zu den meisten Experten dieser Welt einen entscheidenden Vorteil: Sie sehen aus wie ihre Follower, und sie sprechen deren Sprache. So wie Haley Sacks, die sich das Motto: «Stay rich, bitch!» gegeben hat.


Dieser Artikel stammt aus dem Tages-Anzeiger, weitere Artikel finden Sie unter tagesanzeiger.ch

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