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16:03 Uhr - 23.07.2014

«Die grossen Value-Aktien stehen vor der Renaissance»

Thomas Steinemann, CIO der Privatbank Bellerive, stellt Big über Small Caps. Der nächste Aufschwung gehöre den zurückgebliebenen dividendenstarken Blue Chips, sagt er im Interview mit FuW.

Herr Steinemann, was empfehlen Sie Anlegern, die sich in den nächsten Wochen, weil Ferien sind, nicht um die Börse kümmern wollen und auch nicht sollen?
Wer ein Kernportfolio aus dividendenstarken Qualitätsaktien besitzt, soll Smartphone und Computer ausschalten. Im Umfeld von anhaltend mässigem Wirtschaftswachstum und niedrigen Zinsen haben robuste Dividendentitel kaum Konkurrenz. Die besten Chancen sehen wir unter den grossen Werten, die erhebliches Nachholpotenzial besitzen, während die Small und Mid Caps schon stark gelaufen sind und die Auswahl an günstigen und attraktiven Titeln rarer ist.

Thomas Steinemann, CIO der Privatbank Bellerive, sieht Versicherungs- und Energiewerte in der Favoritenrolle. Bild: Thomas Entzeroth
Daneben eröffnen sich immer wieder Gelegenheiten, beispielsweise im Bankensektor, den wir allerdings nicht als Kernanlage ansehen, weil Ungewissheit und Verletzlichkeit noch immer gross sind.

Die Börse nehme weder einen Wirtschaftsboom noch eine Rezession vorweg, schreiben Sie im jüngsten Anlagereport.  Was bedeutet dieser Zustand?
Seit Anfang Jahr entwickeln sich die Aktienmärkte sehr heterogen und überhaupt nicht logisch nachvollziehbar. Da nehmen Sektoren mit gleicher Charakteristik eine völlig unterschiedliche Richtung. Die zyklische IT-Branche liegt weit vorne in der Performancerangliste, Industrie und zyklischer Konsum sind abgeschlagen am Schluss. Das gleiche Bild auf der defensiven Seite: Versorger- und Gesundheit führen die Gewinner an, Telecomtitel rangieren weit hinten. Das bedeutet, dass man sich am Aktienmarkt genauso durchwurstelt wie in der Gesamtwirtschaft und in der Politik.

Aus Ihren Worten klingt Skepsis. Ist die Aktienhausse zu Ende?
Das geschilderte Bild ist typisch für ein Umfeld mit niedrigem Wachstum, und dieser Trend wird noch eine geraume Zeit anhalten. Muss man sich Sorgen machen? Ich glaube, nein; solange keine Rezession droht – und Anzeichen dafür fehlen –, werden die Börsen von zwischenzeitlichen Korrekturen abgesehen eine über alles gesehen gute Figur machen. Denken wir daran: Unternehmensgewinne und Dividende sind fest erarbeitete Grössen und haben wenig mit der Liquiditätsschwemme der Zentralbanken zu tun.

Hält sich die Börse noch an Einflussfaktoren wie Konjunktur und Unternehmensentwicklung, oder wird sie nur noch vom billigen Geld der Notenbanken getrieben?
Der  schleppende Kursverlauf in diesem Jahr signalisiert ja eben, dass in den nächsten sechs bis zwölf Monaten ein Szenario nur bescheidenen Wachstums vorherrschen wird. Es liegt in der Natur der Sache, dass im Schatten davon auch die Unternehmensgewinne langsamer vorankommen werden. Dem trägt die Börse mit dem zögerlichen Verlauf in diesem Jahr Rechnung.

Welche Rolle spielt die Anlagenot für den weiteren Kursverlauf?
Sie spielt sicher eine Rolle. Bonds  haben in den Anlageüberlegungen nur noch eine untergeordnete Bedeutung, und zusätzlich schauen wir einzig noch Gold (Gold 1291.51 -0.97%) an, das aber auch keine Stricke zerreissen wird. Ich wehre mich jedoch gegen das Argument, die Aktienhausse gehe nur auf die ultralockere Geldpolitik der Notenbanken und die daraus entstandene Anlagenot zurück.

Sondern?
Seit dem Tiefst der Krise im Jahr 2009 haben die Unternehmensgewinne stärker zugenommen als die Kurse. Unabhängig vom Zinsrückgang wurde restrukturiert, fokussiert, die Verschuldung abgebaut – die Unternehmen haben hervorragende Arbeit  geleistet. Erst seit ungefähr einem Jahr stellen wir eine gewisse Abkoppelung der Börsenindizes von den Gewinnen fest. Die Bewertungen sind gestiegen, teils berechtigt, weil die Zinsen ein weiteres Stück gefallen sind. Doch wenn wir schon von einer Aktienblase sprechen, wie es viele am Markt tun, dann stehen wir erst am Beginn davon.

In den USA schickt sich die Notenbank, wenn auch sachte, zur geldpolitischen Normalisierung an. Ist das für die Börse nicht ein gefährlicher Cocktail?
Das bezweifle ich, weil die Geldschwemme die reale Wirtschaft nur indirekt über niedrige Zinsen erreicht hat, das Geld selbst sich aber in den massiv ausgedehnten Bilanzen der Zentralbanken türmt. Es ist für Wirtschaft und Börse kein Unglück, wenn diese Türme kleiner werden. Die Zinsen werden trotzdem noch länger niedrig bleiben, weil die Phase des Deleveraging, der Bilanzschrumpfung, sowohl beim Staat wie bei den Privaten anhält. Historisch dauerte ein solcher Prozess sieben bis acht Jahre, somit wäre ungefähr im Jahr 2015 der Wendepunkt erreicht. Das Beispiel Japan zeigt jedoch, dass es unter bestimmten Umständen viel länger geht.

Welche Umstände?
Zentral sind die Immobilienpreise, sie deuten das Ende eines deflationären Umfelds an. Doch von einigen Zentren abgesehen ist weder in den USA noch in Europa ein Immobilienboom in Sicht.

Auch andere Gründe können zur Korrektur führen, politische zum Beispiel.
Kurzfristig gibt es immer Risiken. Zurzeit sind es die Ukraine, der Nahe Osten, auch das gigantische Schattenbankensystem in China ist eine Drohkulisse. Doch falls es zu einer Korrektur kommt, werden die zuletzt wieder festeren Emerging Markets und die Small und Mid Caps stärker getroffen werden als die sogenannt langweiligen Blue Chips. Deshalb raten wir, an dividendenstarken Qualitätstiteln festzuhalten respektive Engagements aufzubauen, wer noch keine hat.

Trotz Überbewertung?
Auch da gilt es zu relativieren. Was heisst überbewertet? Lindt & Sprüngli zum Beispiel sind teuer, seit ich mich erinnern kann, und werden wohl immer teuer sein. Für Qualitätsaktien stellt sich die Frage des Timings nicht, langfristig ist jeder Zeitpunkt gut. Die einen sprechen von einer  Blase, wenn sich ein Kurs in einem Jahr verdoppelt. Für mich ist der Tatbestand gegeben, wenn ein Kurs fundamental nicht mehr nachvollziehbar und durch die Unternehmensgewinne abgesichert ist.

Dass eine Aktienblase am Entstehen ist, haben Sie selbst gesagt.
Einverstanden, aber sie ist in einem frühen Stadium, die Fundamentals schlagen noch immer durch, auch positiv. Eine Blase kann sich über fünf oder zehn Jahre bilden, von einer moderaten bis zu einer massiven, je nach Umfeld, und ein «blasenförderliches» Umfeld, wenn wir so sagen wollen, haben wir mit den niedrigen Zinsen. Auch darauf beruht unsere Überzeugung, dass in einer nächsten Rotation die verschmähten Value-Aktien unter den Blue Chips eine eindrückliche Renaissance erleben werden.

Welche Titel stehen in der Pole Position?
Dividendenstarke Versicherungswerte  wie Allianz (ALV 129.9 0.81%), Helvetia (HELN 454.5 1%), Swiss Life (SLHN 217.1 0.46%), Zurich und Swiss Re (SREN 79.4 0.44%). Dann attraktive Energieaktien, Statoil (STL 22.58 -0.22%) aus Norwegen zum Beispiel, schlagkräftiger und deutlich günstiger als die in fast allen Portfolios vorhandenen Royal Dutch Shell (RDSB 2550 0.1%). Verglichen mit dem Kurs von knapp 190 nKr. beträgt allein der Buchwert 120 nKr., das heisst, diesen Wert bekommt der Anleger beim Kauf gleich auf die Hand. Für den Rest braucht es wenig Zukunftsfantasie, bis sich der Titel aufwärts bewegt. Ähnlich ist die Konstellation bei Chevron (CVX 134.71 0.62%) und Exxon. Mit dem für US-Verhältnisse hohen Eigenkapital und der trotzdem stolzen Eigenkapitalrendite von über 13% bieten Chevron  bei deutlich tieferer Bewertung mindestens so viel Qualität wie Branchenprimus Exxon.

Was drängt sich unter den Nebenwerten auf, die ideale Arrondierung des Kerns?
Nach unserer Bewertungsmatrix, bei der wir von einer sehr konservativen und strengen Hürde für das langfristige Unternehmensgewinnwachstum von 3% und einem verlangten Gesamtertrag der Aktie von rund 8% ausgehen,  stechen beispielsweise Lem (LEHN 776 2.11%) hervor. Der zugegeben kleine Titel wird von Analysten kaum abgedeckt,  zahlt 5,5% Dividende, besticht durch eine selten hohe Rendite von gut 50% auf das mit fast 62 Mio. Fr. stolze Eigenkapital und einen Return on Investment von 40%. Lem ist wie viele andere Schweizer Small- und Mid-Cap-Unternehmen global positioniert, unter anderem in China, und wächst mit im Grunde konservativer Elektronik im Messgerätebereich frappant. Von vergleichbarer Qualität mit ebenfalls kräftigem und stetem Wachstum sind Bucher (BUCN 289.75 0.09%) Industries. Auch dieser Titel ist immer noch attraktiv bewertet und ist eine ideale Ergänzung des Kerndepots.

In fast jedem Schweizer Depot befinden sich – vergleichbar mit Royal Dutch Shell – die Schwergewichte Nestlé (NESN 69.65 -0.29%), Roche (ROG 268.3 0.68%) und Novartis (NOVN 80.35 0.19%). Zahlt sich das aus?
Im Falle von Nestlé stellt die Konzernleitung ein Wachstum von 4 bis 5% in Aussicht, was sich ziemlich genau im Aktienkurs spiegelt. Die Titel bergen deshalb nur durchschnittliches Potenzial. Im Pharmasektor läuft enorm viel. Bei Novartis, die immer etwas im Schatten von Roche gestanden haben, ist die Ausgangslage besonders spannend. Das neue Management fokussiert klar auf noch drei Sektoren. Die Bereitschaft zum Schrumpfen haben nur wenige erfolgreiche Unternehmen, das ist bewundernswert.

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