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18:34 Uhr - 15.05.2015

«Zentralbanken agieren wie der Einäugige unter Blinden»

William White, vormals Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel, erachtet die analytischen Grundlagen der Notenbanken als ungenügend, wie er im Interview mit FuW erklärt.

Vor den unbeabsichtigten Folgen der ultralockeren Geldpolitik warnt Bill White schon lange. Der langjährige Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) kritisiert, die Analysen der Notenbanken seien inadäquat.Die Nationalbank steht in der KritikLesen Sie hier mehr.

Doch einen Goldstandard für den institutionellen Aufbau einer Zentralbank gebe es nicht. Ein Grundproblem ist gemäss White der Glaube der Währungshüter, die Wirtschaft sei eine Maschine. In Tat und Wahrheit gleiche sie eher einem Wald.

Zur PersonWilliam «Bill» White hat neununddreissig Jahre seines Berufslebens in der Welt der Zentralbanken verbracht. Der gebürtige Kanadier – er stammt nach eigenen Angaben aus dem «Outback im Norden Ontarios» – arbeitete nach Abschluss seines Ökonomiestudiums für die Bank of England. Danach folgten zweiundzwanzig Jahre in den Diensten der Bank of Canada. 1994 stiess er zur Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in Basel, der «Zentralbank der Zentralbanken». Dort bekleidete er bis 2008 das Amt des Chefökonomen.

Er zählt zu den wenigen, die schon vor 2007 gewarnt hatten, dass das exzessive Kreditwachstum zu einer Finanzkrise führen wird. Nach seiner Pensionierung von der BIZ wurde er 2009 zum Vorsitzenden des OECD-Prüfungsausschusses für Wirtschafts- und Entwicklungsfragen ernannt. White lebt mit seiner Frau in der Nähe von Basel und pendelt zur Arbeit nach Paris.
Herr White, die Notenbanken verhalten sich wie ein Weltrettungs-Komitee. Wieso?
Sie sind gefangen in einem politischen Prozess – oder vielmehr in einem politischen Nicht-Prozess. Sie ergriffen erstmals aussergewöhnliche Massnahmen, als 2007 der Interbankenmarkt kollabierte und 2008 Lehman unterging.

Sie taten dies für die Stabilität des Finanzsystems, das gehört zu ihren traditionellen Kernaufgaben. Und ihre Massnahmen waren äusserst wirksam.

Und jetzt?
Im Lauf der Zeit, vor allem im Fall der US-Notenbank Fed, änderte sich das Ziel. An die Stelle der Stabilität des Finanzsystems trat angesichts der zähen Erholung die Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage.

Darin sehe ich ein Problem: Es funktioniert nicht. Bislang hat die Geldpolitik das Wirtschaftswachstum nicht auf einen normalen Pfad gebracht. Aber die Massnahmen haben Nebenwirkungen.

Weshalb sind die Notenbanken gefangen?
Man kann dies wohlwollend betrachten: Die Zentralbanken agieren auf diese Weise, weil die Geldpolitik die einzige funktionierende Massnahme ist. Sie verschaffen den Regierungen Zeit. Diese müssten sich z. B. um die riesigen Schuldenlasten kümmern.

Der Ausweg ist, schlechte Kredite abzuschreiben und wo nötig die Banken zu rekapitalisieren – die skandinavische Methode aus den frühen Neunzigerjahren zeigt, wie es geht. Doch die Politiker weigern sich, die Probleme anzugehen.

Wie lautet denn die weniger wohlwollende Betrachtung?
Zentralbanker befinden sich in einer Lage, in der sie nicht sein wollen. Aber sie wissen nicht, wie sie freikommen können. Eine weniger milde Betrachtung ist: Die Notenbanker glauben wirklich, dass ihre ultralockere Geldpolitik kräftiges stabiles Wachstum bringt und keine wesentlichen Nebenwirkungen hat.

Das Fed befolgt doch sein Mandat und versucht, Vollbeschäftigung zu erreichen.
Die Arbeitslosenquote ist auf 5,5% gesunken, das ist nicht weit weg von der Vollbeschäftigung. Eine solch geringe Quote hätte früher weitherum die Furcht vor Inflationsdruck geweckt. Das Fed reizt die Grenzen seines Mandats aus.

Wo liegt denn das Problem? Von Inflation ist doch weit und breit keine Spur.
Um wiederum wohlwollend zu sein: Ja, das Fed hat ein duales Mandat. Die Arbeitslosenquote ist einigermassen normal, die Inflationsrate ist in der Tat deutlich tiefer als angestrebt.

Das Fed ist gebunden durch ein Mandat, erteilt von seinen demokratischen Aufsehern. Ähnlich verhält es sich mit der Europäischen Zentralbank. Beide Notenbanken können ihre Politik mit ihrem Mandat rechtfertigen.

Halten Sie die Mandate für fragwürdig?
Es stellt sich die Frage, ob es Zeit ist für eine breitere analytische Perspektive. Das Fed scheint ziemlich erfolgreich zu sein. Aber die tiefen Zinsen und die Abwertung des Dollars bis zum vergangenen Juni hatten Auswirkungen in Schwellenländern: fallende Zinsen, Kreditexzesse, Ungleichgewichte.

Das Fed ist völlig auf die inländische Entwicklung konzentriert, aber das hat anderswo heftige Folgen, die letztlich auf die US-Wirtschaft zurückfallen. Das Ganze ist viel komplexer, als die Gesetzgeber dachten, als sie dem Fed und der EZB ihre Mandate erteilten.

Ist das Mandat überladen?
Nein, ich würde es sogar ausweiten. Bis zur Krise waren die Zentralbanken zu stark auf Preisstabilität fokussiert, verankert im Glauben, man müsse sich um Schocks auf der Nachfrageseite kümmern. In der Analyse fehlte der Einbezug von Schocks auf der Angebotsseite.

Was meinen Sie mit Angebotsschock?
Im Vorfeld der Krise von 2007 war die Weltwirtschaft mit starken Angebotsschocks aus Asien konfrontiert. Länder wie China kamen zurück in den Welthandel. Dieses zusätzliche Angebot senkte das Preisniveau – das ist eine gutmütige Deflation.

Doch das Fed erkannte die Bedeutung dieses Angebotsschocks nicht. Als die Preise zu fallen drohten, lockerten die Notenbanken die Geldpolitik markant. Ben Bernanke wollte Deflation verhindern.

Wieso ist es falsch, Deflation zu verhindern?
Ich würde behaupten, wie auch Friedrich August von Hayek in den Zwanzigerjahren erklärte: Der Versuch, gute Deflation zu verhindern, führt zu den Exzessen in der Verschuldung, die letztlich in eine Finanzkrise mündeten.

Der Fokus auf Preisstabilität und das analytische Versagen, Angebotsschocks ausser Acht zu lassen, führten die Zentralbanken dazu, eine gute Deflation – verursacht von neuem Angebot – um jeden Preis zu bekämpfen. Das Resultat war ein überbordender Kreditzyklus mit immer höheren Schulden.

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Sollten die Notenbanken auf die Preise von Vermögenswerten und auf Blasen achten?
Zweifellos. Aber ich würde nicht allzu sehr auf die Preise schauen. Die tieferliegende Wahrheit ist: Wir haben ein Fiat-Geldsystem. Banken schaffen Geld aus dem Nichts, indem sie Darlehen vergeben oder Vermögenswerte kaufen. Sie verlängern beide Seiten ihrer Bilanz. Dies gefällt allen, denn es ist ein Schmiermittel für das Räderwerk der Wirtschaft.

Was ist schlecht an einem Fiat-Geldsystem?
Im Verlauf der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass dieses System leicht aus dem Ruder läuft. Das ist auch jetzt der Fall. Wir sollten das elementare Geldsystem betrachten, das Wesen des Geldes und der Kreditschöpfung.

Auf welche Warnzeichen sollten die Notenbanken achten?
Auf Symptome für Übertreibungen – das Boom-und-Crash-Syndrom. Dazu gehören die Vermögenspreise, aber nicht nur. Im Vorfeld der Krise kollabierten in allen englischsprachigen Ländern die Sparquoten, vor allem der privaten Haushalte. Das war ein Symptom; der Zugang zu Krediten war allzu einfach.

Deshalb gaben die Leute viel Geld aus, statt zu sparen. In China mit seinem andersartigen Finanzsystem steigerten die äusserst lockeren Kreditbedingungen nicht den Konsum, sondern die Investitionen. Damals hätte jemand sagen sollen: Gentlemen, wir sind auf dem falschen Weg.

Weshalb haben sich die Notenbanken nur auf die Preisstabilität konzentriert?
Nach der grossen Inflation der Siebzigerjahre galt: Preisstabilität ist unerlässlich für die gesamtwirtschaftliche Stabilität, sie ist also notwendig. Dies wandelte sich später zu einem simplen Grundsatz: Preisstabilität sei nicht nur notwendig, sondern hinreichend für makroökonomische Stabilität.

Zu dieser Theorie kam unglücklicherweise die Zeit der Great Moderation bis 2007, als man dachte, die Geschäftszyklen seien dauerhaft gebändigt. Angesichts dieser Kombination waren die Zentralbanken der Ansicht, alles sei gut. Doch unter der Oberfläche war es alles andere als gut. Künftig werden die Notenbanken auf Dinge wie den Kreditzyklus, die Vermögenspreise und makroökonomische Ungleichgewichte achtgeben müssen.

Wenn Sie eine perfekte Notenbank entwerfen könnten, wie sähe das Mandat aus?
Zentralbanken sollten sich um Preisstabilität und um Finanzstabilität kümmern. Das liesse sich politisch recht gut verkaufen. Die Schwierigkeit ist, dass selbst die Kombination der beiden keine Garantie ist für wirtschaftliche Stabilität.

Die Preise können stabil sein und das Finanzsystem gesund, aber mit riesigen Schulden, wie bei Japans Unternehmen in den Achtzigerjahren oder bei den US-Privathaushalten vor der Finanzkrise.

Sollte neben der Stabilität auch Vollbeschäftigung angestrebt werden?
Mit einem solchen Mandat müssten die Zentralbanken tun, was sie als notwendig erachten für kräftiges stabiles Wachstum. Das ist problematisch, denn damit bekämen sie ein enormes Ausmass an Ermessensfreiheit. Doch vermutlich brauchen sie eine solche Freiheit tatsächlich.

Notenbanken stehen in der Kritik. Wem sollen sie Rechenschaft ablegen, und wie soll ihre Unabhängigkeit organisiert sein?
Dazu besteht in Europa eine gewisse Illusion, insbesondere mit der EZB. Das Wort Unabhängigkeit wird allzu locker und falsch verwendet.

In jeder demokratischen Gesellschaft muss eine Zentralbank letztlich gegenüber gewählten Leuten Rechenschaft ablegen. Dessen sind sich die Notenbanker bewusst. Sie üben grosse Macht aus, die sie nicht gesucht haben.

Für die Geldpolitik ist Unabhängigkeit essenziell.
Die Unabhängigkeit sollte in drei Dinge unterteilt werden. Erstens muss das Mandat von der Regierung kommen. Zweitens können die Zentralbanken seit den Achtziger- und Neunzigerjahren ihre Instrumente unabhängig vom kurzfristigen politischen Prozess einsetzen.

Drittens lässt sich basierend auf dem Mandat und der Befugnis beurteilen, ob das Ziel erreicht ist – das ergibt die Rechenschaftspflicht. All dies geschah in einem demokratischen Rahmen.

Gibt es keinen Zielkonflikt zwischen Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht?
Falls das Mandat der Zentralbanken künftig mehr als bloss Preisstabilität umfasst, befinden wir uns in einer ganz anderen Welt. Mit Finanzstabilität befasst sich eine ganze Reihe anderer Leute. Dann braucht es viel engere Beziehungen zwischen verschiedenen Behörden. Und es stellen sich interessante Fragen, wer was tun soll.

Den Notenbanken werden immer mehr Aufgaben übertragen. Ist das sinnvoll?
Die Ironie der Sache besteht darin, dass die Zentralbanken wesentlich zur aktuellen Krise beitrugen, weil ihr analytischer Rahmen inadäquat war. Diesen Leuten nun noch mehr Befugnisse zu geben, ist eigenartig. Doch Tatsache ist: Unter Blinden ist der Einäugige König.

Zentralbanken sind es gewohnt, mit zahlreichen sich wechselseitig beeinflussenden Gleichungen umzugehen und das System als Ganzes anzuschauen. Sie sind eher geneigt als andere, Beziehungen und unerwartete Folgen zu verstehen.

Soll die Zentralbank im Zentrum stehen?
Zusammenarbeit ist auf viele Arten möglich. In Grossbritannien sind die Komitees für die Finanzstabilität und die Geldpolitik beide bei der Bank of England. Andernorts gibt es vermehrt ein Komitee der wichtigsten Behörden.

In den USA hat das Schatzamt den Vorsitz, Mitglieder sind das Fed, die Börsenaufsicht SEC, die Einlagenversicherung FDIC und weitere. Es gibt keine Konvergenz zu einem Modell, bei dem die Zentralbank wirklich im Zentrum steht. Und das ist besser so. Auch hier geht es um die Macht der Zentralbank und ihre Rechenschaftspflicht.

Wie genau lässt sich die Rechenschaftspflicht gewährleisten?
Ich weiss es nicht. Interessant ist Grossbritannien, wo das Parlament den analytischen Rahmen, den die Bank of England verwendet, unter die Lupe nimmt. Ebenso wie die internen Abläufe, die das bestmögliche Resultat sicherstellen sollen.

Ist es nützlich, Anhörungen vor dem Parlament durchzuführen oder Protokolle der Entscheidungsfindung zu publizieren?
Als Teil ihrer Rechenschaftspflicht sollten die Zentralbanken der Öffentlichkeit den Gedankengang zu ihrem Vorgehen erklären. Dies kann die Öffentlichkeit akzeptieren oder ablehnen – dann müsste gemäss den demokratischen Regeln womöglich der Notenbankgouverneur entlassen oder seine Amtszeit nicht verlängert werden.

Gibt es ein Vorbild für den institutionellen Aufbau einer Notenbank? Gibt es einen Goldstandard für Zentralbanken?
Nein. Das grundlegende Problem ist das unterliegende analytische Rahmenwerk. John Maynard Keynes sagte: «The ideas of economists and political philosophers, both when they are right and when they are wrong, are more powerful than is commonly understood. Indeed the world is ruled by little else.»

Das Problem liegt darin, dass es unter den Zentralbanken absolut keine Einigung gibt über das Wesentliche, das sie anschauen sollten.

Es gibt also keinerlei Vorlage?
Eine Frage lautet: Ist Geldpolitik eine Wissenschaft? Es gibt so viele verschiedene Aspekte, von der Wahl des Wechselkursregimes bis zum analytischen Rahmen und dem Mandat. Die Liste der Aspekte, über die entschieden werden muss für eine gute Geldpolitik, ist enorm lang.

Dazu kommt ein philosophischer Rahmen, wozu die ökonomische Theorie nichts beitragen kann. Wie viel Gewicht erhalten einfache Vorstellungen gegenüber historischen Beweisen und der ökonomischen Ideengeschichte? Inwiefern ist eine Zentralbank fähig, ihre Ansichten zu ändern?

Lassen sich Ansichten einfach ändern?
Gewisse Zentralbanken sind anpassungsfähiger als andere. Beispielsweise hat die Bank of Canada Mitte der Siebzigerjahre nicht viel anderes getan, als zu sagen: «Wir bedauern dies ausserordentlich, damals schien es eine gute Idee zu sein.» Andere Notenbanken wie das Fed sagen: «Wir kennen die Wahrheit, nichts ändert sich.»

Wie entscheiden Zentralbanken über ihr Vorgehen in der Geldpolitik?
Für jeden einzelnen Aspekt gibt es Modeströmungen. Und früher oder später realisieren die Zentralbanken, ob etwas nicht angemessen ist. Gibt es einen Kern der geldpolitischen Wissenschaft? Nein. Sie ändert sich ständig. Und sie tendiert dazu, sich im Kreis zu bewegen.

Könnte sich letztlich eine Erfolgsmethode herausbilden?
Es gibt keine Übereinstimmung über den besten Weg. Generell gibt es für viele Problemstellungen keine einzig richtige Antwort. Es gibt verschiedene Pakete aus Vorgehensweisen, die funktionieren. Je nach Land können unterschiedliche Pakete gleichermassen gut funktionieren. Was nicht funktioniert: einen Teil eines Pakets auswählen und anderswo einsetzen.

Was könnte helfen, die Geldpolitik zu verbessern?
Ich bin mehr und mehr überzeugt davon, dass das grundlegende Problem der Notenbanken – und übrigens der meisten Ökonomen – im Beharren liegt, die Wirtschaft sei eine Art Maschine, die sich mit vielen Gleichungen beschreiben lässt. In Wahrheit ist die Wirtschaft ein komplexes adaptives System. Wie ein Wald.

Ein Wald?
Die Analyse von Volkswirtschaften als komplexen adaptiven Systemen bringt völlig andere Erkenntnisse. Dies wird aber noch nicht akzeptiert. Im Vergleich dazu ist die Debatte unter Ökonomen über Monetarismus versus Keynes gar nichts.

Wie funktioniert ein komplexes adaptives System?
Darauf basierend müssen gewisse Folgerungen akzeptiert werden, welche die Zentralbanken noch nicht in ihre Denkmodelle eingearbeitet haben. Eine davon: Diese Systeme brechen ständig zusammen. Wenn die Wirtschaft das komplexeste von Menschen errichtete System ist, dann wird sie regelmässig kollabieren.

Historisch war das auch der Fall. Wir sollten also allzeit bereit sein. Doch auf die Finanzkrise waren wir nicht vorbereitet. Jetzt sieht es nicht besser aus. Es gab kein Ablaufschema für die Insolvenz von Banken – all dies hätte bereitstehen sollen.

Die grundlegende Philosophie der Notenbanken ist wohl immer noch: Wir kontrollieren das System mit unseren Hebeln.
Absolut. Dies nannte Hayek die fatale Täuschung: zu glauben, man verstehe, wie das System funktioniert, und man könne es kontrollieren. Das ist das Erste. Und dies wird falsch praktiziert, wie die Krise gezeigt hat. Als Zweites gilt für die komplexen Systeme: Wenn sie zusammenbrechen, kann das Ergebnis katastrophal sein, ein totaler Kollaps.

Das geschieht zwar selten, aber nicht nie. Mit dieser Erkenntnis sollten wir versuchen, einen Kollaps zu verhindern. Das führt etwa zu viel mehr Kapital für die Banken. Man muss die kritischen Knotenpunkte identifizieren und versuchen, sie zu stärken. Da haben wir noch nicht genug getan.

Verstehen wir das System zumindest besser?
In solchen Systemen kümmert man sich nicht um den Auslöser. Ist die Lage kritisch, kann alles Mögliche zum Trigger werden. Der Fokus muss auf der systemischen Instabilität liegen. In dieser Hinsicht werden Fortschritte gemacht.

Allerdings: Beim Regelwerk Basel III für systemrelevante Banken wurde lediglich das Kapital um eine dünne Schicht erhöht. Das scheint mir kaum adäquat zu sein.

Worauf sollten wir achten im Hinblick auf die nächste Krise?
In komplexen adaptiven Systemen wiederholt sich die Geschichte nie, aber sie reimt sich. Das bedeutet: Suche die Ursache des Problems von morgen nicht, indem du die Ursache des gestrigen Problems betrachtest. Das System wird womöglich auf völlig andere Weise auseinanderfallen als das letzte Mal.

Könnten Kredite erneut ein Auslöser sein?
Ab 2007 gab es Probleme mit Bankkrediten. Was geschieht als Nächstes? Am meisten Sorgen machen mir Darlehen in Dollar an Unternehmen in Schwellenländern. Erstarkt der Dollar, steigt damit die Last der Schuldner im Vergleich zu ihrem Einkommen in Lokalwährung.

Wie auch immer, das nächste Mal wird anders sein. Komplexe Systeme sind nicht linear, sondern zutiefst nichtlinear. Es gibt Tipping Points, heftige Wendepunkte.

Die Wirtschaft als komplexes adaptives System zu akzeptieren, bedeutet folglich für Notenbanken, bescheiden zu sein.
Absolut. Das ist das erste Wort, das einem einfällt: Bescheidenheit.

Einstweilen sind wir wohl in einer Welt der Notenbanken, die sagen: Wir haben das Finanzsystem gerettet und wissen, wie alles funktioniert.
Die Notenbanker, die ich kenne, sind bescheidener. Sie tun, was sie tun, weil sie es tun müssen. Sie kaufen bloss Zeit.

Die Nationalbank steht in der KritikDie Schweizerische Nationalbank (SNB) hat in der Finanzkrise erfolgreich agiert. Im Herbst 2008 erleichterte sie die UBS um toxische Wertpapiere. Zudem orchestrierte sie den Limmat-Pfandbrief, womit die Liquidität der mit Kapital überschwemmten inlandorientierten Banken zu den Grossbanken umgeleitet wurde.

In die Kritik geriet die SNB, als sie ab 2009 mit wenig Erfolg am Devisenmarkt intervenierte und damit ihre Bilanz aufblähte. Die Bilanzsumme entspricht nun rund 90% des Bruttoinlandprodukts. Eine zweite Welle der Kritik brach über die SNB herein, als sie den Franken-Euro-Mindestkurs aufhob. Bei der Erklärung dieser – notwendigerweise abrupten – Kehrtwende machte die Nationalbank keine gute Figur.

Unter den Zentralbanken sei es mittlerweile die übliche Praxis, ihre Massnahmen im Nachhinein zu begründen, sagt William White. In Japan müsse der Gouverneur der Zentralbank zweimal pro Monat vor das Parlament treten. Dazu sagt Charles Wyplosz, Wirtschaftsprofessor an der Universität Genf: «Wenn SNB-Präsident Thomas Jordan explizit Rechenschaft vor dem Parlament ablegen müsste, wäre das zwar ein notwendiger Schritt. Aber er gibt denjenigen politischen Kräften einen Ansatzpunkt, die die Unabhängigkeit der SNB beschneiden wollen.»

Debattiert wird auch, ob das Direktorium mit bloss drei Mitgliedern nicht zu klein sei. Ein grösseres Gremium wäre eine weniger kollegiale Gemeinschaft und nicht so dominiert vom Präsidenten, wird argumentiert. Dagegen spricht die Erfahrung der Europäischen Zentralbank, wo trotz 25-köpfigem Entscheidungsgremium der Wechsel vom zögerlichen Jean-Claude Junker zum forschen Mario Draghi eine geldpolitische Neuorientierung brachte. White sagt, gemäss der breiten wissenschaftlichen Forschung über Gruppen betrage deren optimale Grösse acht.

Eine Vergrösserung des Direktoriums auf fünf Mitglieder schlägt die Denkfabrik Avenir Suisse vor, für breiter abgestützte Entscheidungen und um einer falsch verstandenen Kameraderie entgegenzuwirken. Zudem soll der Bankrat – quasi der Verwaltungsrat – als «Sounding Board» des Direktoriums dienen. Das bedeute aber nicht, dass dort geldpolitische Entscheidungen abgesprochen würden. Im Gegenteil: Die Unabhängigkeit der SNB bedinge die ausschliessliche Entscheidungskompetenz des Direktoriums.
White resümiert, für die Organisation einer Notenbank existiere keine einzig richtige Lösung. Es gebe verschiedene Kombinationen von Arbeitsweisen, die funktionierten.

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