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16:37 Uhr - 16.04.2015

«Indiens Hausse basiert auf Dezentralisierung»

Neelkanth Mishra, Aktienstratege für Indien von Credit Suisse, sieht noch kein Ende der Rally an der Börse Mumbai. Ursache dafür sei nicht bloss die Hoffnung in Premierminister Modi.

Herr Mishra, in Indien ist die Börse mehr als 100% gestiegen, seit Narendra Modi Premier ist. Sind das angesichts der enormen wirtschaftlichen Herausforderungen nicht zu viele Vorschusslorbeeren?
Nein, denn die Rally der vergangenen zwölf Monate basiert – anders als vielfach gesagt wird – nicht alleine auf dem Modi-Effekt, sondern auch auf einer staatlichen Dezentralisierung. In Indien findet eine tiefgreifende Machtverschiebung von der Zentralregierung hin zu den Teilstaaten statt, was für die Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Ein Blick auf die Kursentwicklung der indischen Börse zeigt, dass die sogenannte Modi-Rally etliche Zeit vor dem Zeitpunkt begann, als Modi Spitzenkandidat seiner Partei wurde. Indische Aktien wurden vor zwei Jahren mit einem deutlich höheren Aufschlag zum MSCI Global gehandelt als das heute der Fall ist.

Zur PersonNeelkanth Mishra ist Aktienstratege für Indien von Credit Suisse.Während indische Unternehmen eher zurückhaltend expandieren, steigen die ausländischen Direktinvestitionen steil an. Schätzen Einheimische die indische Wirtschaft realistischer ein als Ausländer?
Nein. Ausländer investieren gegenwärtig vor allem in den Bereichen Automobil, IT oder auch Konsumgüter, die sich zunehmend gegen aussen öffnen und wo Ausländer jetzt Marktanteile erobern wollen. Trotz des damit entstehenden schärferen Wettbewerbs expandieren auch indische Unternehmen in diesen Sektoren, wie das etwa der Mischkonzern Tata vormacht. Dass die Direktinvestitionen einheimischer Unternehmen insgesamt nur langsam steigen, ist das Resultat von Marktverzerrungen im Versorgerbereich, wo es teilweise erhebliche Überkapazitäten gibt.

Aber wird das Wachstum Indiens nicht ­gerade durch Engpässe im Schienennetzwerk, bei den Häfen oder auch in der Stromversorgung gebremst?
Ja, aber das ist ein komplexes Problem. Ein gutes Beispiel ist die Elektrizitätsindustrie, in der gegenwärtig nur gerade 60% der bestehenden Kapazitäten genutzt werden. Zwar gäbe es potenziell genügend Nachfrage, doch sind die Monopolabnehmer praktisch bankrott, womit für die nächsten fünf Jahre auch keine erweiterten Produktionskapazitäten nötig sein werden. Erst nachdem dieser Sektor modernisiert worden ist, wird das Spiel von Angebot und Nachfrage ins Gleichgewicht geraten, was dann auch einen Investitionsschub nach sich ziehen wird.

Gibt es Anzeichen, dass die notwendigen Reformen auch umgesetzt werden?
Ja. Die in der Verfassung festgelegte Autonomie der Teilstaaten wurde durch die Dominanz der im Mai abgewählten Kongresspartei lange geschwächt. Doch hat die Peripherie in den vergangenen Jahren verlorenes Territorium zurückerobert. Indien ist, anders als vielfach von aussen Gesehen, nicht ein stark zentralisierter Staat, sondern eine Föderation strukturell sehr unterschiedlicher Teilstaaten. Über den Bau von Kraftwerken sowie den besseren Zugang zu sauberem Wasser, Gesundheitsvorsorge oder Bildung wird nicht in der Hauptstadt entschieden, sondern auf einer tieferen Ebene. Indien gleicht damit nicht einem Zentralstaat, sondern eher der Europäischen Union, die so unterschiedliche Länder wie Deutschland, Portugal oder auch Bulgarien zusammenfasst.

Wie spiegelt sich das an der Börse?
Die Börse Mumbai hat diese Tatsache, die die Wirtschaft zunehmend prägt, viel früher erkannt als einzelne Beobachter. Investoren sehen damit innerhalb desselben Staats je nach Standpunkt eine moderne, dynamische Volkswirtschaft oder auch ein armes Entwicklungsland. Insgesamt ist Indien heute indes erst an dem Punkt angelangt, wo andere Schwellenländer wie Mexiko oder die Türkei  vor dreissig oder vierzig Jahren standen. Das heutige Indien muss mit Afrika südlich der Sahelzone verglichen werden. Das zeigt sich etwa daran, dass bis heute die Hälfte der indischen Haushalte mit Feuerholz kocht und ein Drittel der Haushalte keinen Zugang zu fliessendem Wasser hat. Daraus ergibt sich aber auch ein enormes Aufholpotenzial.

Was hat den politischen Umbruch möglich gemacht?
Voraussetzung dafür war die vom Mobiltelefon und vom Internet ausgelöste Informationsrevolution. Nicht zuletzt dank ihr ist die Analphabetenrate der jungen Bevölkerung massiv zurückgegangen. Besser informierte Bürger verlangen von ihrer Regierung mehr Rechenschaft. Durch all das ist in Indien die Demokratie reifer geworden und die Politiker haben darauf reagiert.

Doch weist Indien weiterhin schwere strukturelle Schwächen auf, die sich etwa in einem hartnäckigen Zahlungsbilanzdefizit äussern. Ist die Volkswirtschaft damit nicht in besonderem Masse externen Schocks – etwa steigenden Zinsen – ausgesetzt?
Nein. Anders als noch 2014 weist Indien heute auf das Jahr hochgerechnet einen Zahlungsbilanzüberschuss auf und verzeichnet zudem einen grossen Kapitalzufluss. Die Reserven der Zentralbank haben in den vergangenen zwölf Monaten über 40 Mrd. $ zugenommen. Damit konnte zwar eine Aufwertung der Rupie vermieden werden, doch sie bleibt eine der weltweit stärksten Währungen. Das läuft gegen die Absicht der Zentralbank, die sich einem Währungskrieg ausgesetzt sieht. Andere Länder wollen mit der Schwächung ihrer Währung an internationaler Wettbewerbsfähigkeit gewinnen.

Indien wäre demnach das Opfer des eigenen Erfolgs. Trifft das auch für die Börse zu, wo das Kurs-Gewinn-Verhältnis von 17 mittlerweile deutlich über dem historischen Durchschnitt von 14 liegt?
Nein. Die Bewertung der Aktien mag absolut gesehen zwar hoch erscheinen. Wäre man in den vergangenen zehn Jahren als Aktionär auf diesem Niveau eingestiegen, hätte das in Verlusten resultiert. Doch Indien ist keine isolierte Insel. Indische Aktien bleiben mit einer Ertragsrendite von 5,8% vergleichsweise zu zehnjährigen US-Staatsanleihen attraktiv.

Die kotierten indischen Unternehmen erwirtschaften im internationalen Vergleich hohe Gewinne. Was ist ihr Geheimnis?
Vor allem ältere kotierte Unternehmen sind generell sehr gut geführt. Dem steht eine schwerfällige Bürokratie gegenüber. Der offizielle Privatsektor hat gelernt, in einem von Kapitalknappheit und bürokratischen Hürden  geprägten Umfeld zu überleben. Das hat die Effizienz erhöht.

Ist das schwierige Umfeld nicht auch dafür verantwortlich, dass der Privatsektor hoch verschuldet ist und die Bilanzen der Banken schwach sind?
In der Tat gibt es eine Schuldenproblematik, doch sind die Risiken unterschiedlich verteilt. Zu kämpfen haben heute exportorientierte Metallproduzenten, die das abnehmende Wirtschaftswachstum Chinas spüren. Stromkonzerne respektive Elektrizitätswerke wiederum leiden, weil sie mangels Gas und Kohle (Kohle 59 0.17%) ihre Kapazitäten nicht voll nutzen können. Diesen Risiken sind indes vor allem die staatlich kontrollierten Banken ausgesetzt. Im Gegensatz dazu sind die grossen privaten Finanzhäuser weitgehend solide, denn diese sind vor allem auf das Konsumsegment ausgerichtet.

Welche Anlagestrategie empfehlen Sie?
Der Blick muss klar auf die Teilstaaten und die Arbeit der dortigen Regierungen gerichtet sein. Am meisten Rückenwind erhalten davon vorderhand Konsumgüter, aber auch der IT-Sektor. Klar übergewichten sollten Anleger auch die Pharmabranche. Wenig attraktiv sind aus den erwähnten Gründen hingegen die staatlich kontrollierten Banken, ebenso wie die zyklische Schwerindustrie. Ausgenommen davon sind angesichts der regen Bautätigkeit Zementproduzenten.

An der indischen Börse sind eine ganze Reihe Töchter ausländischer Konzerne kotiert, etwa von Nestlé (NESN 76.55 0.72%), Novartis (NOVN 99.15 -0.85%) oder auch Unilever (UNA 41.945 2.54%). Haben deren Aktien nach der steilen Rally der vergangenen Monate noch Aufwärtspotenzial?
Nur noch teilweise. Investoren sollten dabei vor allem auf den Grad der Marktintegration achten. Gut verankerte Unternehmen verfügen über einen grossen Erfahrungsschatz. Unternehmen hingegen, die in den vergangenen Jahren auf Kosten des Umsatzwachstums zu stark auf die Profitmarge geachtet haben, sind jetzt oft an die Grenze des Wachstums gestossen.

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