Ein neues Buch will die ökonomische Lehre von Ballast befreien. Wirtschaftswissenschaftler stellen darin Theorien vor, die man getrost vergessen darf.
Die ökonomische Lehre ist unter Druck. Nach der Finanzkrise wurden die Wirtschaftswissenschaften mit Kritik überschüttet, da sie den nur knapp abgewendeten Zusammenbruch des Bankensystems nicht vorhergesehen hatten. Der naive Glaube an Modelle hat die Krise wohl gar erst möglich gemacht.
Der Basler Ökonom Bruno S. Frey will nun eine «schöpferische Zerstörung» in den Wirtschaftswissenschaften anregen: «Die Ökonomie ist eine gut etablierte und selbstsichere Wissenschaft. Sie kann es sich leisten, kritisiert zu werden und Lehren abzuwerfen», sagt er im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft». Zusammen mit dem Mitherausgeber David Iselin lässt er in einem neuen Buch siebzig Autoren kurz erklären, welche Ideen aus den Wirtschaftslehrbüchern verbannt werden sollen.
Tiefe Volatilität verdeckt RisikoImmer noch verlässt man sich bei der Risikoeinschätzung auf die Kursschwankungen. Das ist Unsinn. Ein Kommentar von FuW-Redaktor Alexander Trentin.Die FuW hat fünf Ideen aus dem Buch herausgepickt und erklärt, warum man sie vergessen darf.. Andere Theorien, die in dem Buch auseinandergenommen werden, sind etwa die Eigenkapitalrendite als Zielmarke von Banken. Oder dass Staatsschulden die künftigen Generationen belasten.
Bei der Themenwahl waren die Autoren frei. Daher reichen die Ideen von ganz grundsätzlichen Fragen des menschlichen Seins bis zu technischen Details volkswirtschaftlicher Modelle. «Ich kann nicht jede Aussage in dem Buch unterschreiben», sagt Frey. «Aber die Texte müssen ernst genommen werden.» Wer mit einem Aufsatz nicht einverstanden sei, der müsse nun argumentieren. Neben bekannten Ökonomen wie dem MIT-Professor Daron Acemoglu wurden Nachwuchswissenschaftler und Forscher aus anderen Gebieten wie der Ethnologie und der Psychologie für das Buch gefunden.
Wichtig für Frey war, dass die Autoren einzeln für ihren Text die Verantwortung tragen: «Heutzutage verfasst man oft zu dritt oder zu viert einen Aufsatz», berichtet er. «Doch so versteckt man sich hinter seinen Mitautoren.» Absichtlich wollte er keinen Einfluss nehmen, welche Ideen die Autoren auf welche Weise angreifen.
Ziel des Buches war, «klare Statements» zu bekommen. Das ist gelungen. Es ist für Leser interessant, die sich trauen, die eigenen Glaubenssätze zu hinterfragen.
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Idee 1: «Mehr Auswahl ist immer besser»
Die klassische Ökonomik ist sich sicher: Gibt man einem Konsumenten mehr Auswahl, dann tut ihm das nur Gutes. Ein möglichst grosses Angebot an Waren und Dienstleistungen zur Verfügung zu stellen, wird daher als einer der grossen Erfolge der Marktwirtschaft gefeiert. Während man im real existierenden Sozialismus von einer Produktauswahl nur träumen konnte, buhlen in unseren Supermärkten Hunderte Sorten Konfitüre oder Joghurt darum, gekauft zu werden.
Niemand will in einer Mangelwirtschaft leben. Aber die simple Arithmetik «mehr ist besser» verkennt, dass der Mensch keine unbegrenzte Rechenkraft hat. Es ist anstrengend, viele verschiedene Optionen vergleichen zu müssen. Christine Benesch von der Universität St. Gallen referiert in ihrem Kapitel das Ergebnis eines Experiments: Kunden wurden in einem Supermarkt entweder sechs oder 24 Konfitüren zum Testen angeboten. Sie haben einen Rabatt bekommen, wenn sie danach eine Konfitüre kauften. Die Kunden, die nur sechs Konfitüren zur Auswahl hatten, kauften danach zehnmal öfter tatsächlich eine der Sorten.
Ein anderes Beispiel ist Fernsehen. In Ländern mit einem grossen Angebot an Fernsehsendern wird auch mehr ferngesehen. Die Zuschauer mit einem hohen Konsum sind aber weniger zufrieden mit ihrem Leben. Benesch schliesst: Der Fernsehkonsum ist kurzfristig schlecht zu kontrollieren, auch wenn man weiss, dass er langfristig negative Auswirkungen hat.
In seinem Kapitel zum Thema versucht Princeton-Professor Alan Blinder den Leser zu überzeugen, dass «eine wohlwollende Regierung, die die Auswahl einschränkt, Sie tatsächlich besserstellen kann – nicht in der Theorie, aber in der Praxis».
Idee 2: «Volatilität ist gleich Risiko»
Man findet die Zahl auf allen Prospekten für Anlagefonds, und sie ist massgebend für die Bildung vieler Portfolios: die Volatilität. Sie misst, wie stark der Kurs eines Wertpapiers schwankt. Das statistische Mass hat sich zur am breitesten akzeptierten Kennzahl für das Risiko einer Anlage gemausert. Das ist gar offiziell sanktioniert: So werden die Risikostufen von Fonds auf Factsheets gemäss EU-Vorgaben anhand der Volatilität festgelegt.
Dabei muss man kein Statistiker sein, um diese Kennzahl zu hinterfragen. Wenn der Investor eine Anlage auf eine lange Frist hält, dann sind kurzfristige Schwankungen uninteressant. Die Volatilität sagt nichts darüber aus, wie viel ein Wertpapier über einen längeren Zeitraum verlieren kann. Der Kurs kann über Jahre kaum schwanken, aber dann doch plötzlich zusammenbrechen. Man denke an die Bankaktien in der Finanzkrise.
Peter Cauwels von der ETH Zürich weist in seinem Kapitel darauf hin, dass die Preise auf den Finanzmärkten nie im Gleichgewicht sind. Die klassische Finanzmarkttheorie behauptet das aber. Ihr zufolge ist die Volatilität ein gutes Mass für das Risiko, da der jetzige Preis der einzig effiziente ist. Schwankungen sollten sich dann um diesen fairen Kurs bewegen. Doch die Idee, dass sich die Preise an den Finanzmärkten nur um einen Mittelwert bewegen, ist nicht realistisch. Am deutlichsten zeigt sich das an den Preisblasen, die immer wieder auftreten.
«Im Rückblick war die Volatilität dann am niedrigsten, wenn die Blase ihren Höhepunkt erreicht hatte», erklärt Cauwels. Das Verlustrisiko war also dann am höchsten, als die niedrigsten Schwankungen gemessen wurden. «Dagegen war die Volatilität am Tiefpunkt des Crashs am höchsten» – genau dann hätte sich der Kauf einer Anlage am meisten gelohnt.
Idee 3: «Roboter nehmen uns alle Jobs weg»
Einer der grossen Angstmacher der heutigen Zeit: Menschliche Arbeitskraft wird überflüssig, da Roboter dank künstlicher Intelligenz mehr und mehr Aufgaben übernehmen können. Im Jahr 2013 beispielsweise hat eine Studie von Carl Benedikt Frey von der Universität Oxford Wellen geschlagen. Gemäss der Untersuchung waren ungefähr 47% der Arbeitsplätze in den USA in Gefahr, automatisiert zu werden. Von einer baldigen Automation betroffen seien besonders einfache manuelle Aufgaben und Routinetätigkeiten im Büro.
Droht der Menschheit wegen der technischen Entwicklung Massenarbeitslosigkeit? Und könnte sich dadurch die Ungleichheit zwischen Gewinnern und Verlierern noch weiter auftun? Um den sozialen Verwerfungen entgegenzuhalten, hat etwa der Microsoft-Gründer Bill Gates eine Steuer auf Roboter verlangt.
Doch die Geschichte lehrt uns etwas anderes. «Wir vergessen, dass Menschen auf die neuen Maschinen diesmal reagieren werden, wie sie es auch schon jedes Mal zuvor getan haben», schreibt Reto Cueni von Vontobel (VONN 57.15 -0.09%) Asset Management in seinem Kapitel. Er argumentiert für die Anpassungsfähigkeit des Gehirns und die Schöpfungskraft des Menschen. «Neue Bedürfnisse entstehen, wenn die neue Technologie verstanden wird», erklärt er.
Ein wirtschaftlicher Umbruch ist immer durch Unsicherheit gekennzeichnet. Arbeitnehmer könnten entlassen werden, wenn ihre Tätigkeiten automatisiert werden. Doch das geschah über das vergangene Jahrhundert ständig. Wie der US-Ökonom Dean Baker vorrechnet, würde der erwartete Verlust der besagten 47% der Arbeitsplätze über zwanzig Jahre einem Produktivitätsgewinn von 3,1% jährlich entsprechen. «Das ist ungefähr die Rate zwischen 1947 und 1973.»
Idee 4: «Wachstum macht uns glücklich»
Je mehr Güter und Dienstleistungen ein Land produziert, desto besser geht es den Menschen dort. So denken viele Wirtschaftswissenschaftler und Politiker. Daher wird heftig daran gearbeitet, wie man das Bruttoinlandprodukt (BIP) eines Landes erhöhen kann. Denn das Wachstum der Wirtschaft macht ja die Menschen glücklich.
Doch Richard Easterlin von der University of Southern California kritisiert diese Denkweise in seinem Kapitel: «Zwar ist der materielle Lebensstandard wichtig. Doch dabei werden andere entscheidende Bestandteile des Wohlbefindens ausgeblendet, wie etwa Familienleben, Gesundheit, Arbeit und Ziele.» Dazu kommt eine ganz grundsätzliche Kritik an der Planung von oben: «Ein Beobachter entscheidet, was gut für die Menschen ist. Nicht die Menschen selbst.» Statt das BIP zu verwenden, gingen daher immer mehr Ökonomen in die Richtung, die Menschen direkt nach der Zufriedenheit mit ihrem Leben zu befragen.
Solche Umfragen zeigten zwar, dass die Zufriedenheit kurzfristig mit dem BIP schwanke, erklärt Easterlin. Während der durch die Finanzkrise ausgelösten US-Rezession sei das Glücksempfinden der Menschen kollabiert. Daher würden manche Ökonomen eine enge Beziehung zwischen Wirtschaftswachstum und Zufriedenheit feststellen.
Doch damit werde der langfristige Trend ausgeblendet. Ein gestiegenes Bruttoinlandprodukt bedeute über einen langen Zeitraum nicht mehr Glück. Ein Beispiel dafür sei der extreme Entwicklungssprung der chinesischen Volkswirtschaft. Von 1990 bis 2010 hat sich das BIP pro Kopf in der Volksrepublik vervierfacht. Doch das Glück der Chinesen stagniert gemäss Umfragen seit den Neunzigerjahren.
Idee 5: «Distanz spielt keine Rolle mehr»
Die Welt ist flach. So heisst zumindest ein Bestseller aus dem Jahr 2005 von Thomas Friedman, Journalist bei der «New York Times». Friedmans These: Durch den Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs, Fortschritte in der Informationstechnologie und Offshoring in aufstrebende Entwicklungsländer werden historische und geografische Unterschiede immer unwichtiger.
Doch auch zwölf Jahre nach dem Erscheinen des Buches scheint es weiterhin entscheidend zu sein, wo man als Unternehmen auf der Welt ein Hauptquartier, ein Labor oder eine Fabrik eröffnet. So siedeln sich Technologieunternehmen gerne im Silicon Valley und nicht in Venezuela an.
Peter Nijkamp vom Tinbergen Institut in Amsterdam sieht in seinem Kapitel zwar die Kosten durch die physische Distanz tatsächlich schwinden, «aber es gibt noch jede Menge Reibungsverluste durch die Distanz, sodass sich wirtschaftliche Akteure im Raum gruppieren».
So sei die Nutzung des Internets über die Welt nicht gleichmässig verteilt. «Es gibt Millionen Menschen, die noch nie telefoniert haben!», ruft Nijkamp in die Debatte. Und selbst dort, wo der technische Zugang vorhanden sei, sei die Nutzung ganz unterschiedlich.
«Economic Ideas You Should Forget». Bruno S. Frey und David Iselin (Hrsg.). Springer, 2017. 166 Seiten. 33 Fr.Besonders ein Standort in Städten bekomme durch die Digitalisierung weitere Vorteile – das Internet biete gerade in dicht besiedelten Gebiete mehr Nutzen. Man denke nur an Fahrdienste wie Uber oder Empfehlungsdienste für Restaurants und Shopping, die sich besonders in Städten auszahlen.
Der weltweite Trend geht in Richtung Urbanisierung, also der Verstädterung und damit der vermehrten Gruppierung von Menschen. «Grosse Städte werden weiter wachsen», glaubt Nijkamp. Die wirtschaftlichen und räumlichen Unterschiede würden damit noch ausgeprägter.
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