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02:00 Uhr - 19.11.2014

Ein extremer wirtschaftspolitischer Mix

Die USA erfinden den Über-Keynesianismus, Europa bremst im falschen Moment und Japan unternimmt ein expansiv-restriktives Experiment.

Während meines Volkswirtschaftsstudiums vor mehr als einem Vierteljahrhundert untersuchte ich die Instrumente und Optionen, mit denen eine Regierung das Wachstum, die Beschäftigung und die Inflation beeinflussen kann. Dabei erschien die Welt ganz einfach. Zu dieser Zeit gab es zwei konkurrierende Lehrmeinungen zu diesen Optionen: die keynesianische Tradition, die besagte, dass die Regierung «etwas tun» müsse, und die monetaristische Tradition, die von der Regierung bloss erwartete, dass sie «nicht schaden» solle.

Nach Ansicht der Keynesianer – auf die Gefahr hin, ihre Denkweise allzu sehr zu vereinfachen – entstehen Rezessionen durch eine mangelnde Nachfrage. Mit höheren Ausgaben oder Steuersenkungen kann eine Regierung eine strauchelnde Wirtschaft unterstützen, ebenso wie eine Zentralbank, indem sie die Zinsen senkt. «Antizyklische Wirtschaftspolitik» war die Devise der 50er- und 60er-Jahre – so sehr, dass Präsident Richard Nixon angeblich sagte: «Wir sind jetzt alle Keynesianer.»

Keynes asymmetrisch

Ein Schwachpunkt des keynesianischen Konzepts besteht darin, dass die Politiker in der Rezession gerne bereit sind, Geld auszugeben, sich aber meistens nicht an die andere Anweisung halten: in Boomzeiten Geld zu sparen. In der Praxis wurde der Keynesianismus eher zu einer asymmetrischen als zu einer antizyklischen Politik. Zudem ist das Timing antizyklischer Massnahmen in der Regel nicht optimal. Aufgrund der Verzögerung erreichen die Massnahmen ihre maximale Wirkung häufig erst, wenn sich die Wirtschaft bereits wieder erholt, was zu Überhitzung und Inflationsdruck führt. Deshalb raten die Monetaristen der Schule von Milton Friedman den Regierungen, antizyklische Massnahmen völlig zu vermeiden – gemäss dem hippokratischen Prinzip, «keinen Schaden» zuzufügen.

Die Welt hat sich seit der Glanzzeit des Keynesianismus offensichtlich entwickelt, und nach der grossen Inflation Ende der 70er-Jahre sahen viele Ökonomen diese Lehrmeinung als Veraltet an. Seit der Finanzkrise und der grossen Rezession sind gesamtwirtschaftliche Massnahmen zur Abfederung eines Abschwungs wieder in Mode gekommen, wenn auch nicht überall in gleichem Mass. Wir müssen zwischen der aktiven Haltung in den USA, der restriktiven Haltung in der Eurozone und einer recht eigenartigen Mischung in Japan unterscheiden.

Der frühere Vorsitzende der US-Notenbank, Ben Bernanke, scherzte: «Das Problem (mit der quantitativen Lockerung) ist, dass sie in der Praxis funktioniert, aber nicht in der Theorie.» Was die USA jedoch Ende 2008 initiierten, war geradezu ein «Über-Keynesianismus». Die Regierung und das Fed ergriffen alle nur denkbaren expansiven Massnahmen, wodurch sich die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt (BIP) fast verdoppelte und die Geldmengenbasis schliesslich auf das Fünffache anschwoll. Die Ökonomen debattieren gegenwärtig, wie die langfristigen Folgen einer derart extremen antizyklischen Politik aussehen werden. Es sollte jedoch nicht überraschen, dass die USA, zumindest im Augenblick, starke Wachstumsraten aufweisen.

Die in der Eurozone während und nach der grossen Rezession praktizierte Wirtschaftspolitik ist schwieriger auszulegen. Während die Geldpolitik der Eurozone zunächst expansiv war, wobei sie weit hinter der US-Geldpolitik zurückblieb, wurde sie im Oktober 2012 faktisch restriktiv, als die Bilanz der Europäischen Zentralbank (EZB) um etwa 1 Bio. € zu schrumpfen begann. Zumindest bis zu den Ankündigungen der EZB vom vergangenen September lässt sich sagen, dass der politische Mix insgesamt restriktiv und prozyklisch war.

EZB bremst prozyklisch

Im Rückblick erklärt dieser Mix die Double-Dip-Rezession der Eurozone 2012 und 2013, das aktuelle Risiko einer Deflation und die Stärke der europäischen Währung bis März 2014. Obwohl das Thema der antizyklischen Politik umstritten ist, gibt es keinen Ökonomen, der sich für eine prozyklische Politik ausspräche.

Japan verfolgt mit seinen Abenomics den eigenartigsten politischen Mix. Die Geldpolitik ist extrem expansiv. Mit den neuen von der Bank of Japan angekündigten Massnahmen wird die Geldmengenbasis pro Kopf und Jahr um den Gegenwert von 5600 $ ausgeweitet. Im Vergleich dazu erhöhte sich die Geldmengenbasis in den USA auf dem Höhepunkt des Programms QE3 pro Kopf und Jahr um 3200 $. In Japan wurde die Fiskalpolitik, die 2013 immer noch expansiv war, äusserst res­triktiv, da die Umsatzsteuer im vergangenen Frühjahr 3% angehoben wurde und 2015 erneut 2% erhöht werden könnte.

Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht erscheinen die Abenomics wie ein Experiment mit psychotropen Substanzen, bei dem eine Person nacheinander eine Amphetaminspritze (Geldpolitik) und ein Schlafmittel (Fiskalpolitik) erhält. Dadurch hat die Volatilität des japanischen BIP enorm zugenommen: Auf ein annualisiertes Wachstum von 6% im ersten Quartal 2014 folgte eine Kontraktion um 7,2% im zweiten Quartal. Das Experiment ist noch nicht abgeschlossen. Deshalb ist schwer zu sagen, ob die Schocktherapie der Abenomics die japanische Wirtschaft letztlich defibrillieren wird oder einen ­definitiven Herzstillstand hervorruft.

Meiner Ansicht nach dürfte sich die Tatsache, dass alle drei grossen industrialisierten Volkswirtschaften individuelle und international nicht koordinierte makroökonomische Massnahmen ergriffen haben, als kontraproduktiv erweisen. Es gibt aber auch einen positiven Aspekt. In einem Vierteljahrhundert werden die ­Makroökonomen dank der derzeit gesammelten Erfahrungen in der Lage sein, ihr finanz- und geldpolitisches Instrumentarium zu verbessern.

Andreas Höfert ist Chefökonom von
UBS (UBSN 16.78 -0.06%) Wealth Management.

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