Die Bank of England geht in die Offensive und erläutert der Bevölkerung an öffentlichen Veranstaltungen ihre Entscheidungen. Ein Augenschein vor Ort.
Der Jüngling in blau-weisser Schuluniform sitzt am grossen runden Tisch Nummer sieben und beugt sich konzentriert über einen Stapel Papier. Er beäugt die «Landkarte der Wirtschaft».
Gerade eben hat Mark Carney, der Chef der Bank of England, dem Schüler und den übrigen rund 300 Anwesenden die Aufgabe gestellt, eine persönliche Standortbestimmung zu machen, welchen Platz man in der Wirtschaft einnimmt.
Wir befinden uns in Liverpool, in der denkmalgeschützten St. George’s Hall, gleich gegenüber dem imposanten Hauptbahnhof. Ein ganz normaler Donnerstag, scheint es – wäre da nicht Carney mit all seinen vier Stellvertretern, den Deputy Governors, angereist.
Ihre Mission: den Dialog mit der Bevölkerung zu suchen, zu hören, was diese aus wirtschaftlicher Sicht wirklich beschäftigt, und zu erfahren, ob ihre Botschaften und Massnahmen verstanden werden.
Brexit als Auslöser
Willkommen zum Future Forum – zu dem Anlass, an dem Banker und Bevölkerung sich auf Augenhöhe treffen. «Heute sprechen wir über Wirtschaft in Worten, die alle verstehen», verspricht Carney.
Keine Rede von Quantitative Easing, keine Erwähnung von Anleihenkaufprogrammen. Es geht um Hintergründe von Notenbankentscheiden und die Folgen, die daraus für alle entstehen.
Mit dem Forum beschreitet die Bank of England Neuland. Keine andere der grossen Zentralbanken bietet der breiten Bevölkerung ein vergleichbares Format. Sie setzen auf alternative Formen, um den Austausch zu fördern (vgl. Kasten rechts).
Weil die Arbeit der Notenbanker ausserhalb der Finanzwelt kaum verstanden wird, dienen Museen und Publikationen dazu, die Vorgänge verständlicher zu machen.
Auslöser für die Annäherung an die britische Bevölkerung war die unerwartete Zustimmung zum Austritt aus der Europäischen Union im Sommer 2016. «Das hat uns gezeigt, dass wir aus der Londoner Finanzblase ausbrechen müssen. Es ist wichtig zu verstehen, was die Leute auf dem Land beschäftigt», sagt Sam Woods, einer der Stellvertreter von Carney.
So werden gerade der jüngste Zinsschritt und die Teuerung zu einem der wichtigsten Themen des Nachmittags. «Alles wird plötzlich teurer, nun treiben die höheren Zinsen auch die Kosten für Hypotheken nach oben. Wie soll das so weitergehen?», ruft ein Mann im Saal.
Ein Steilpass für Gouverneur Ben Broadbent, der bei der Bank of England den Bereich Geldpolitik verantwortet. Er erinnert an die Siebzigerjahre: «Damals war die Teuerung sehr schwankend. Das führte zu grossen Planungsunsicherheiten in der Industrie.»
1992 sei die Bank of England damit beauftragt worden, die Teuerung zu stabilisieren. «Unser wichtigstes Instrument ist der Leitzins», erklärt Broadbent dem Plenum.
Selfies mit dem Rockstar
Zurück zu Tisch Nummer sieben. Es wird eifrig ausgetauscht, wo man sich nun selbst auf dieser Landkarte der Wirtschaft einordnet. Eingezeichnet sind nicht nur Institutionen wie Banken, Regierung und Handelsplätze, sondern auch das eigene Umfeld, das eigene Zuhause, die Zeitung, die man täglich liest. Die Übung regt zu heftigen Diskussionen an.
«Typisch, dass ausgerechnet nicht profitorientierte Einrichtungen wie Freiwilligenarbeit und Wohltätigkeit fehlen», sagt Lehrerin Susan. Und Rentner Michael, extra aus dem benachbarten Wales angereist, findet den Anlass ohnehin eine Alibiübung. «Die wollen uns doch nur in ihr eigenes Boot holen», sagt er. «Der Ort, wo die Entscheide der Bank of England gefällt werden, ist weder Liverpool noch London, sondern die Schweiz.» Er spielt auf Basel an, den Sitz der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich.
Derweil nutzt Mark Carney die Gelegenheit, von Tisch zu Tisch zu gehen, hier und dort Dinge zu erklären, die vom Publikum nicht verstanden werden – und für unzählige Selfies zu posieren.
Nicht von ungefähr gilt der Kanadier, der als erster Nicht-Brite der Bank of England vorsteht, als Rockstar unter den Bankern. Er, der vom Aussehen her immer mal wieder mit Hollywood-Schauspieler George Clooney verglichen wird. Zumindest in Ansätzen lässt sich tatsächlich eine Ähnlichkeit zwischen den beiden erkennen.
Gleichzeitig ist der Notenbankchef aber auch sichtlich bemüht, Einwürfe der Anwesenden aufzunehmen. Während der Diskussionen macht er sich fleissig Notizen. Gut möglich, dass sich tatsächlich der eine oder andere Input umsetzen lässt.
Fokus auf soziale Medien
Dass der Austausch für die Bank of England nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, zeigt sich an der Art, wie sie kommuniziert. In den sozialen Medien hat die britische Notenbank ihre Präsenz deutlich ausgebaut, um gerade auch die jüngeren Schichten anzusprechen.
Der Zinsentscheid wurde auf dem Kurznachrichtendienst Twitter (TWTR 22.27 1.78%) als animierte Grafik dargestellt, auf der eigenen Facebook-Seite werden unter anderem die Auswirkungen der Erhöhung erklärt. Auch hier sticht die Bank of England deutlich unter den Zentralbanken heraus.
Auf solche Interaktionen setzt die Notenbank auch bei öffentlichen Anlässen. Wer nicht nach Liverpool reisen konnte, hatte die Möglichkeit, die dreieinhalbstündige Veranstaltung über Facebook (FB 180.87 -0.54%) live mitzuverfolgen – auch wenn das Interesse vorerst noch mässig ist: Bislang wurde der Livestream gerade mal von gut 1300 Personen angeschaut.
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