Thomas Steinemann, CIO der Bellerive Privatbank, rechnet mit frischer Dynamik am Aktienmarkt – dank guter Konjunktur und einer Entspannung im Handelsstreit.
Herr Steinemann, welchen Eindruck haben Sie vom Aktienmarkt, wohin geht die Reise?
Die Marktverwerfungen seit Ende Januar gehen im Wesentlichen auf drei Ursachen zurück: Die Zinserhöhungen in den USA, die Handelsstreitigkeiten zwischen Amerika und China und die Vorkommnisse in der Tech-Industrie mit Uber, Tesla und Facebook (FB 157.93 0.46%), die viel medialen Gegenwind ausgelöst haben. Ich gehe davon aus, dass bei allen drei Themen im Jahresverlauf eine Entspannung eintritt und sich die Märkte erholen werden. Positiv stimmt zurzeit, dass der Zinsanstieg an den Obligationenmärkten und die Dollarschwäche abgeklungen sind und sich da die Lage wieder etwas beruhigt hat.
Was wird aus dem Handelsstreit – nach Jahrzehnten der Globalisierung ein sorgenschürendes Thema?
US-Präsident Donald Trump hat wunde Punkte aufgegriffen, die der breiten Öffentlichkeit bisher kaum bekannt waren. Wer ist sich zum Beispiel bewusst, dass Europa höhere Steuern auf amerikanischen Gütern erhebt als umgekehrt? Oder dass China seinen Stahlsektor so stark subventioniert, dass der Weltmarkt geradezu mit Stahl überschwemmt wird, was negative Ertragskonsequenzen auch für europäische Stahlkocher hat? Trump geht zweifelsfrei radikal vor und provoziert, aber wer meint, er verstehe nichts von Wirtschaft, liegt falsch. Er ist Geschäftsmann und weiss genau, wie weit er gehen kann, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, ohne dass seine Politik zum Eigentor wird. Ich gehe nicht davon aus, dass die Situation eskalieren wird.
Haben die Anleger zu viel Angst?
Kurzfristig könnten die Streitparteien die Liste von Importzöllen noch erweitern und die Nervosität an den Märkten bleibt wohl bestehen. Doch am Ende des Tages wird es zu einer Art «Deal» kommen, mit dem alle leben können. Ich erwarte überhaupt, dass sich alle drei Problemfelder – Handelskonflikt, höhere Zinsen und Unruhe im Techsektor – im Jahresverlauf entspannen werden.
Wohin steuert die Konjunktur, mit oder ohne Handelskonflikt?
Der Aufschwung dauert an, und zwar in allen Regionen synchron. Er ist stark genug, um auch politischen Irritationen zu widerstehen. Ein wichtiger Treiber sind die Steuersenkungen in den USA. Sie werden die US- und damit die globale Wirtschaft in Schwung halten.
Was folgt daraus für die Börse: Ende des Abschwungs und Seitwärtstendenz oder Fortsetzung der Aktienhausse?
Eine Entspannung, wie ich sie mittelfristig erwarte, würde dem Aktienmarkt neue Dynamik verleihen. Die Aktienhausse geht weiter, wenn auch nicht im Stil der letzten Jahre, als sich die Kurse teilweise verdoppelten. Steigende Zinsen sind in einer blühenden Wirtschaft unvermeidlich, und damit fällt ein Befeuerungselement an der Börse weg. Aber auch eine letztlich positive Performance von 5 bis 7%, wie ich sie für dieses Jahr erwarte, ist nicht zu verachten.
Liegen neue Höchst noch dieses Jahr drin, trotz der Korrektur der vergangenen zwei Monate?
Absolut, die Aktienhausse ist intakt und wird sich aller Voraussicht nach fortsetzen. Die anhaltend gute Entwicklung von Wirtschaft und Unternehmensgewinnen sprechen dafür.
Worin besteht das grösste Risiko für die Börse?
Das Hauptrisiko für Wirtschaft und Finanzmärkte ist ein zu spätes Handeln der US-Zentralbank, dass also das Fed «Behind the Curve» gerät. Es sind mehr Zinsschritte nötig, als sie mit je drei für 2018 und 2019 erwartet werden. Das Problem könnte auftreten, wenn durch die Steuersenkungen die Wirtschaft übermässig stimuliert wird. Die Folge wären panikartige Zinssteigerungen, welche die Märkte unter Druck brächten.
Was wäre das Warnsignal, worauf achten Sie in diesem Zusammenhang besonders?
Entscheidend ist die Zinskurve. Solang sie nicht invers ist – das heisst, die kurzfristigen Zinsen sind nicht höher als die langfristigen – ist der Ausblick für die Börse positiv.
Wo sehen Sie Alternativen zu Aktien: Obligationen, Cash?
Obligationen sind keine Alternative. Das Zinstal ist durchschritten, und der Trend geht, wenn auch eher gemächlich, nach oben. Eine Diversifikation ist Gold (Gold 1340.57 0.32%). Das Edelmetall hat positiv auf die Marktunruhen der jüngsten Vergangenheit reagiert. Cash und ausgewählte alternative Anlagen wie Private Equity (PEHN 71 0%) kommen ebenfalls in Frage.
Haben Aktien auch deshalb kräftig korrigiert, weil sie zu teuer waren?
Auf Indexebene haben sich die Bewertungen etwas verringert, die Märkte als solche sind aber nach wie vor teuer. Hingegen gibt es auf Titelebene Aktien, die übertrieben stark gefallen sind.
Zum Beispiel?
In der Schweiz sind Aktien wie Bossard (BOSN 192.8 -2.28%), Komax (KOMN 270.8 0.89%), Comet (COTN 127.4 -0.39%) und Cembra Kaufgelegenheiten. Unter den grösseren Werten haben Versicherungsaktien gute Chancen: Zurich, Helvetia (HELN 573 0.17%), Swiss Life (SLHN 339.6 -0.41%) oder – aus Deutschland – Allianz (ALV 188.12 0.37%). Die Assekuranz profitiert von höheren Zinsen.
Funktioniert Diversifikation wieder, nachdem lange Zeit fast alle Anlagen im Gleichschritt tendierten?
Diversifikation im richtigen Ausmass ist das Einzige, was es im Anlagegeschäft gratis gibt. Es stimmt, viele Anlagen haben sich parallel entwickelt. Aber was häufig übersehen wird – innerhalb der Aktien hat Diversifikation gut funktioniert. Besonders zeigt sich das in diesem Jahr, wo die Performanceunterschiede zwischen Small und Large Caps, zwischen Versicherungen und Pharma oder Dow Jones (Dow Jones 23979.1 0.19%) und SMI (SMI 8713.8 0.31%) sehr ausgeprägt sind. Die vermeintlich sicheren Werte wie Nestlé (NESN 76.08 0.11%), Unilever (UNA 0 0%) und Roche (ROG 216.85 -0.32%) gehören zu den Performanceschlusslichtern in diesem Jahr.
Bleibt dieses Muster intakt, ohne Rotation oder Favoritenwechsel?
Es setzt sich fort, ganz einfach, weil die Wirtschaft gut läuft. Unternehmen in defensiven Sektoren wie Nahrungsmittel stossen an Wachstumsgrenzen. Ein KGV von über 20 wie für Nestlé ist sportlich für eine Gesellschaft, die nur wenig wächst. Anders bei zyklischen Industrien und besonders bei kleineren und mittelgrossen Unternehmen, unter denen manche den Gewinn weiterhin zweistellig steigern.
Was wird aus den Tech- und besonders den gebeutelten Internet-Titeln wie Facebook?
Auch da gilt es, genauer hinzusehen. Bei Facebook darf man sich nicht wundern, wenn Daten weitergeleitet werden. Das Netz ist löchrig, und die meisten Nutzer haben der Weiterleitung bei der Account-Eröffnung, ohne gross zu überlegen, zugestimmt. Insgesamt sind Techwerte weiterhin attraktiv. Die Bewertung ist nicht nur deutlich niedriger als vor dem Platzen der Internetblase um die Jahrtausendwende, sondern die Unternehmen sind fast alle rentabel. Alphabet/Google (GOOGL 1020.09 1%), Apple (AAPL 170.05 0.99%) und Microsoft (MSFT 90.77 0.6%) haben ein KGV zwischen 17 und 15. Chinas Internetfavoriten Alibaba (BABA 169.87 1.4%) und Tencent (Tencent 52.02 1.49%) China sind zwar teurer, jedoch wachsen die Unternehmen im zweistelligen Bereich.
Womit ist aus Frankensicht am Devisenmarkt zu rechnen?
Wenn sich – wovon wir ausgehen – die Aktienmärkte beruhigen, werden Euro und Dollar ihren Aufwärtstrend zum Franken fortsetzen.
Kann so die Nationalbank die Negativzinsen lockern – vielleicht noch vor der EZB?
Ein schwächerer Franken gibt der SNB (SNBN 7620 -2.31%) den Spielraum, die unglückliche Negativzinsperiode zu beenden. Voraussichtlich findet der erste Schritt im nächsten Jahr statt, aber nicht vor der EZB. Ein Vorpreschen der Nationalbank ist unwahrscheinlich, wobei die Abkehr von den Negativzinsen noch eine spannende Diskussion auslösen wird.
Wie meinen Sie das?
Die Negativzinsen sind eine Art Steuer für die Banken, und Banken geniessen in der Öffentlichkeit wenig Sympathie. Auch in der Politik ist ein Abbau umstritten. Die Zinsen, die der SNB zufliessen, sind über die Gewinnausschüttung zu einer zusätzlichen Einnahmequelle für Bund und Kantone geworden, auf die diese nur ungern verzichten. Selbstverständlich ist die Nationalbank unabhängig. Gleichwohl ist auch sie im Dilemma. Wer jahrelang behauptet hat, der Franken sei überbewertet, kann nicht plötzlich das Gegenteil behaupten und die Zinsen hinaufsetzen.
Welche Wette würden Sie per Ende Jahr an den Anlagemärkten eingehen?
Eine Wette auf höhere Obligationenzinsen: Die Rendite zehnjähriger Eidgenossen sehe ich Ende Jahr auf rund 1% und die der zehnjährigen US-Treasuries auf 3,5%. Heute sind es knapp 0% respektive 2,8%. Das ist hinderlich für Obligationen und lässt Raum für Aktien, die einen mässigen Zinsanstieg bereits einpreisen.
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