Albert Edwards, Marktstratege bei Société Générale, erwartet einen massiven Einsturz der Börsenkurse und empfiehlt Bargeld, Staatsanleihen und Gold.
Er geniesst seine beruflichen Freiheiten in vollen Zügen. Albert Edwards gehört nicht nur zu den wenigen Strategen, die nicht die offizielle Hausmeinung der französischen Grossbank Société Générale (GLE 48.46 -2.99%), sondern seine eigenen Ansichten vertreten darf. Der Ur-Londoner mag es auch nicht, sich an Kleiderkonventionen zu halten. Die Besucher empfängt er im legeren Blümchenhemd und in sportlichen Schuhen. Sein Büro liegt denn auch nicht mitten in der Londoner City, sondern im östlich davon gelegenen Quartier Shoreditch, wo sich Hipster-Läden und Street-Food-Shops aneinanderreihen.
Seit 1996 vertritt er die These, dass sich die westlichen Finanzmärkte in einem strukturellen Bärenmarkt befinden. Das hat ihm die Übernamen Superbär und Permabär eingetragen. Seine dem Mainstream entgegenlaufende Meinung ist bei Anlegern sehr gefragt. Zu seinem jährlichen Finanzmarktausblick drücken sich jeweils Hunderte von Bankern und Investoren in den stets zu kleinen Saal. Kürzlich hat Edwards mit seinem Arbeitskollegen bei der unter den Kunden der Finanzhäuser durchgeführten Extel-Umfrage zum 14. Mal in Folge den Spitzenplatz belegt.
Herr Edwards, die globale Konjunktur wächst langsam, aber stetig, die Inflation ist tief, die Finanzmärkte boomen. Wir befinden uns in der besten aller Welten, oder?
Der Eindruck täuscht. Die globale Wirtschaftserholung ist fragiler, als es scheint, vor allem in den USA. Ein gutes Frühwarnsystem ist die Entwicklung der Unternehmensgewinne. Diese zeigen nach unten. Auch die Margen sind rückläufig. Das ist ein deutliches Signal, dass das Ende des laufenden Zyklus naht. Gleichzeitig sind die Aktien teuer. Die durchschnittliche Bewertung liegt über dem Wert von 2007. Soll sich ein Investor also tatsächlich in Sicherheit wiegen?
Zumindest fühlen sie sich sicher genug, um in Aktien investiert zu sein.
Das ist die kurzfristige Perspektive. Es gibt kaum noch Investoren, die langfristig ausgerichtet sind. Das ist die heutige Realität der Finanzindustrie. Alle verspüren einen immer grösseren Druck, Performance zu liefern. Vielleicht liegt das an den Millennials, die jeden Wunsch möglichst schnell befriedigt sehen möchten. Ich weiss es nicht.
Ist es nicht zermürbender, während Jahren vor der Gefahr eines riesigen Crashs zu warnen, während gleichzeitig die Börsen unaufhörlich auf Rekordmarken steigen?
Klar, die Unternehmen zeigen gute Resultate. Das treibt die Kurse an. Aber auch das greift zu kurz. Zum Glück muss ich mich nicht um die täglichen Bewegungen sorgen. Ich versuche, mein Szenario in eine Langzeitperspektive einzubetten, weil ich mich aus dem Lärm des Marktes zurückhalten darf.
Ihr Szenario ist die Ice-Age-Theorie – eine Kopie des Platzens der japanischen Aktienblase mit anschliessender Deflationsspirale. Ist diese These gescheitert?
Überhaupt nicht. Ob ich mit meiner These richtig oder falsch liege, lässt sich nicht heute beurteilen. Viele Lektionen, die ich gelernt habe, stammen aus den Erfahrungen von Japan seit Beginn der Neunzigerjahre. Auch dort gab es zwischen den Rezessionen kräftige zyklische Erholungsrallys. Deshalb ist der Test für meine These nicht der aufgeblasene Aktienmarkt, sondern die nächste Rezession. Die entscheidende Frage ist, ob wir das Tief von 2009 unterbieten. Damals lag die Bewertung aufgrund der geschätzten Gewinne niedriger als 2002, der vorgängigen Rezession. Ich bin überzeugt, dass der Markt das nächste Mal noch tiefer fällt.
Wie kann sich ein Anleger vor diesem Szenario schützen?
Sie sollten in den kommenden Jahren sehr vorsichtig und skeptisch sein sowie so konservativ wie nur möglich investieren.
Was heisst das konkret?
In erster Linie sollten Anleger die Bargeld-Position deutlich erhöhen. Wer kein Cash halten kann und zwingend in Aktien investiert sein muss, sollte auf Unternehmen mit einer starken Bilanz setzen. In einem Abschwung werden auch solche Valoren korrigieren, aber weitaus weniger als der breite Markt. Gleichzeitig sollten Anleger auch die Goldposition aufstocken, quasi als Versicherung, falls die Inflation deutlich ansteigen sollte.
Hohe Inflation zeichnet sich derzeit aber überhaupt nicht ab.
Deshalb sage ich, Gold (Gold 1267.65 0.46%) soll als eine Versicherung betrachtet werden für den Fall, dass die Inflation ansteigt. Ich gehe davon aus, dass bei den ersten deutlichen Anzeichen einer Rezession der Goldpreis stark positiv reagieren wird, weil die Notenbanken in einem solchen Fall überreagieren werden. Sie werden es nicht schaffen, im richtigen Umfang zu intervenieren. Dies wird höchstwahrscheinlich zu einem Anstieg der Inflation führen. Doch allein die Furcht vor höherer Inflation wird den Kurs antreiben.
Welche Art von Interventionen erwarten Sie?
Ich bin mir sicher, dass die Notenbanken in der nächsten Rezession zur nächsten Stufe von Interventionen greifen – zu Helikoptergeld und zu negativen Zinsen, auch in den USA. Aber solche Massnahmen würden zumindest am Anfang kaum wirken.
Warum wirken die Massnahmen nicht?
Die Leute werden angesichts der gedrückten wirtschaftlichen Stimmung das Geld nicht ausgeben, sondern horten. Das würde in einer frühen Phase die Rezession zusätzlich befeuern. Die Ausfallquoten bei den Unternehmen würden anspringen. Dazu käme ein steigender Druck auf exportorientierte Regionen und Staaten wie die Eurozone oder China. Das ist ein höllischer Mix für die Finanzmärkte.
Nochmals: Die Wirtschaft brummt. Weshalb sollten wir bald eine Rezession befürchten?
Wir befinden uns im drittlängsten Zyklus in der Geschichte der USA. Zudem zieht die US-Notenbank die Zinsschraube an. Bei zehn der dreizehn letzten Zinserhöhungszyklen hat sie eine Rezession verursacht. Es lief also fast jedes Mal etwas schrecklich schief.
Wann ist es denn so weit?
Es kann nächstes Jahr sein oder auch in zwei Jahren. Es ist zum Glück nicht mein Job, zeitgenaue Prognosen zu machen. Ich weiss lediglich, dass eine Rezession überfällig ist. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Was heisst das für die Märkte?
Bereits unter normalen Voraussetzungen fallen die Kurse während einer Rezession rund 50%. Der Interventionismus der Notenbanken hat das Szenario verschlimmert. Stimmen meine Annahmen, dann droht ein Absturz von 70 bis 80%. Oder anders ausgedrückt: Der Dow Jones (Dow Jones 22085.34 -0.15%) Industrial könnte von heute 22 000 unter 7000 Punkte fallen, der SMI (SMI 9025.93 -1.49%) von heute 9000 unter 3000 Zähler.
Wie bitte?
Eigentlich ist die Rechnung simpel: Aktuell beläuft sich die Bewertung auf Basis der geschätzten Gewinne auf rund 18. In einer Rezession dürfte dieses Kurs-Gewinn-Verhältnis deutlich unter 10 fallen.
Wo sehen Sie das grösste Korrekturrisiko?
Amerikanische Unternehmensanleihen sind am meisten exponiert – wegen der expansiven Geldpolitik. Das Federal Reserve hat mit dem Kauf von Staatsanleihen und hypothekenbesicherten Papieren deren Renditen so weit gedrückt, dass Anleger auf Unternehmens- und Hochzinsanleihen ausgewichen sind. Mit diesem Geld wiederum kaufen die Gesellschaften Aktien zurück. Es ist ein Geldkreislauf, der die reale Wirtschaft nicht miteinbezieht.
Was würde in einer Rezession passieren?
Rund 20% der Unternehmen drohen auszufallen. Das hat jüngst eine Studie des Internationalen Währungsfonds gezeigt. Das heisst, dass Unternehmensanleihen deutlich stärker korrigieren würden als üblich. Dazu kommt, dass viele Unternehmensanleihen in falschen Händen liegen. Der Aufschwung der ETF-Branche hat dazu geführt, dass Privatanleger ganz einfach in diese Papiere investieren konnten. Die meisten sind sich aber nicht den erhöhten Risiken bewusst.
Drohen weitere Konsequenzen?
Ich rechne mit einem neuerlichen globalen Währungsabwertungswettlauf. Die Inflation ist tief, sowohl in den USA als auch in der Eurozone. In der nächsten Rezession droht deshalb der Fall in die Deflation. Wer nicht wie Japan in einer jahrzehntelangen Deflationsspirale enden will, wird gezwungen sein, die eigene Währung abzuwerten.
Was hiesse der Abwertungsdruck für den Franken?
Die Schweizerische Nationalbank müsste dieses Spiel wohl oder übel mitspielen. Wer wie die Schweiz einen derart grossen Leistungsbilanzüberschuss hat, kommt nicht um eine starke Währung herum. Man kann dagegen kämpfen, indem man genug Geld druckt, so wie es China gemacht hat. Die Schweiz befindet sich in einer ähnlichen Lage wie China vor zehn Jahren, als die Währungsreserven pro Jahr 30 bis 40% anstiegen. Dafür muss man eine höhere Inflation in Kauf nehmen.
Dennoch: Es läuft weiterhin alles nach Plan. Nichts deutet auf einen Einbruch hin.
Die Aktionen von Fed-Chef Ben Bernanke und dessen Nachfolgerin Janet Yellen sowie von EZB-Präsident Mario Draghi sehen auch acht, neun Jahre nach der Finanzkrise gut aus. Doch gleichzeitig türmen sich die Schuldenberge immer höher, die Volatilität ist sehr tief, die Anleger werden selbstgefällig. Je länger es gut ausschaut, desto mehr vergisst man die Vergangenheit. Und die hat uns wiederholt gezeigt: Finanzkrisen kommen immer dann, wenn man sie am wenigsten erwartet.
Und dann?
Wenn alles in die Luft geht, endet es in einer noch tieferen Rezession. Statt den Konjunkturzyklus zu kontrollieren, blasen die Notenbanken den Ballon auf, bis er platzt.
Mit welchen Folgen?
Anleger werden an den Finanzmärkten nach sicheren Häfen suchen und wohl Staatsanleihen kaufen. Die Rendite der zehnjährigen US-Treasuries wird unter null fallen, wie dies in der Schweiz auch geschehen ist. Vielleicht droht sogar dem dreissigjährigen Treasury eine negative Rendite. Negative Zinsen sind wie eine langsame Strangulierung der Banken. Man kann ihnen beim Schreien zuhören. Aber ich habe zumindest noch eine gute Nachricht für Ihre Leser.
Ja bitte, wir hören gerne zu.
Die Banken standen im Zentrum der letzten Krise. Heute ist der Eigenhandel der Banken dank der Volcker-Regel massiv eingeschränkt. Zwar werden Investoren grosse Verluste erleiden, aber die Kettenreaktion wird die Banken deutlich weniger stark treffen. Sie haben keine toxischen Vermögenswerte mehr.
Wenn alles derart ausser Rand und Band geraten ist: Was hätten Sie gemacht, wenn Sie Notenbanker wären?
Ich hätte die Geldpolitik vor langer Zeit normalisiert. Es ist aberwitzig, eine expansive Geldpolitik zu fahren und Finanzanlagen zu kaufen, nur um die Märkte ruhigzustellen. Nach einer Rezession kann es keine schnelle Erholung geben. Man muss der Wirtschaft Zeit geben, dafür ist dann der Aufschwung nachhaltiger. Aber vielleicht sehen wir ohnehin bald eine deutliche Veränderung bei den Zentralbanken.
Was für Veränderungen erwarten Sie bei den Notenbanken?
Sie sind auf dem besten Weg, ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Kommt es zur Rezession, werden Notenbanken dafür verantwortlich gemacht. Sie haben mit der Liquiditätsschwemme alles verschlimmert. Auch zehn Jahre nach der schlimmsten Kreditblase der Geschichte sind die Bilanzen schwach, die Sparquote ist tief und die Erholung wacklig. Die Politiker werden Verantwortliche für die Misere suchen und bei den Notenbanken finden.
Was genau haben die Notenbanker falsch gemacht?
Vielleicht war das erste Anleihenkaufprogramm noch sinnvoll, um nicht im Kollaps zu enden. Aber das war’s dann schon. Alles andere hat die Lage eher verschlimmert als verbessert. Eigentlich würden wir einen globalen wirtschaftlichen Neustart benötigen, einen Klick auf den Reset-Knopf. Nur so würde man sich aus dem Korsett befreien können, in das man sich wegen all den Interventionen der vergangenen Jahre begeben hat.
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