Niedrigzinsen und Alterung setzen dem Vorsorgesystem immer mehr zu. Ivo Furrer, Chef von Swiss Life Schweiz, hält deshalb die Initiative AHVplus für schädlich.
Herr Furrer, die alternde Bevölkerung und die niedrigen Zinsen stellen die Vorsorgeeinrichtungen vor grosse Herausforderungen. Wie beurteilen Sie den Gesundheitszustand des Systems und seiner Einrichtungen auf einer Skala von eins bis sechs?
Den heutigen Zustand würde ich mit einer Vier bewerten, also mit einem Genügend. Das schweizerische Vorsorgesystem ist mit den drei Säulen AHV, berufliche Vorsorge und individuelles Alterssparen unter den weltbesten, zehrt aber zu sehr von Polstern. Da ist viel Reformbedarf. Wir wollen in der Schweiz ja nicht bei einer Vier bleiben, sondern eine bessere Note anstreben. Da müssen wir alle daran arbeiten.
Zur PersonDer 59-Jährige Ivo Furrer leistet seit 2008 das inländische Kerngeschäft der Swiss Life. Der Jurist hatte zuvor für Zurich Insurance gearbeitet, nach Karriereschritten bei der Credit Suisse und der damaligen «Winterthur»-Versicherung. Furrer kümmerte sich während des beruflichen Werdegangs um komplexe globale Kontrakte für die Industriekunden wie auch um die finanzielle Absicherung von Familien und Einzelpersonen. Faszinierend am Versicherungswesen sei, dass sinnvolle Leistungen für das Individuum und die Gesellschaft erbracht würden, meint er.Wo sind die grössten Mängel?
Wegen der Entwicklung der Lebenserwartung und der tiefen Zinsen ist der gesetzliche Umwandlungssatz der beruflichen Vorsorge viel zu hoch. Er bestimmt, welcher Prozentsatz des gesparten Kapitals den künftigen Pensionierten als Rente jährlich ausgezahlt wird. Weil zu viel versprochen wird, kommt es zu einer ungleichen Verteilung von Anlageertrag. Das ist ungerecht und unnötig. Wer nun denkt, die notwendige Umwandlungssatzsenkung mit der AHVplus-Initiative zu kompensieren, geht einen falschen Weg. Ein solcher AHV-Ausbau würde der ganzen Bevölkerung sehr hohe Finanzierungskosten aufbürden.
FuW-Beilage «Vorsorge»Dieses Interview ist Teil der Vorsorge-Beilage von «Finanz und Wirtschaft» vom 17. September 2016. Die gesamte Beilage ist als PDF unter www.fuw.ch/Magazine abrufbar.
Wiegt schwerer, dass stetig weniger jüngere Leute für immer mehr ältere Menschen einzahlen müssen oder dass Negativrenditen am Vorsorgekapital nagen?
Beides in sich sind hohe Hürden, und die Kombination der beiden macht die Herausforderung noch viel grösser. Beim Thema Lebenserwartung muss man auch über den Generationenvertrag nachdenken. Wenn besonders in der zweiten Säule die Erwerbstätigen die Rentnerinnen und Rentner mit rund 1000 Fr. pro Jahr mitfinanzieren müssen, ist das eine gravierende Fehlentwicklung. Demografie und Zinsen sind Grössen, die weitgehend gegeben sind. Aber es kommt noch etwas hinzu, wo in unserem Land durchaus Spielraum für Einflussnahme ist, nämlich die Regulierung. Die Kapitalforderungen an die Lebensversicherer sind rund doppelt so hoch wie im Rest von Europa, wie eine Studie der Universität St. Gallen belegt.
Welche Anpassungen fordern Sie, auch als Mitglied des Schweizerischen Versicherungsverbands?
Das Ziel muss sein, die Konkurrenzfähigkeit des Versicherungsstandorts Schweiz zu erhalten. Wir setzen uns dafür ein, dass der von der Finanzmarktaufsicht viel zu scharf kalibrierte Schweizer Solvenztest SST nicht zu massiv überhöhten Kapitalanforderungen für Schweizer Versicherer führt. Die Kapitalanforderungen müssen international vergleichbar sein. Ein moderater Zusatz – ein Swiss Finish – mag sein. Aber es darf nicht so bleiben, dass die Anforderung bei uns doppelt so hoch ist wie in der EU.
Wie rechnen sich die 1000 Fr. pro Jahr, die jeder Beschäftigte offenbar durch Einzahlungen in die Vorsorge für Rentner aufbringen muss?
Wenn das Geld, das in der zweiten Säule individuell gespart wird, mit einem zu hohen Umwandlungssatz versehen ist, reicht das Sparkapital nicht für die Dauer des voraussichtlichen Rentenbezugs. Dann muss die Differenz aus Reserven oder zulasten der Beschäftigten bestritten werden. So braucht es rund 1000 Fr. jährlich je Erwerbstätigen, um zu grosszügig berechnete Renten mitzufinanzieren, wie Swisscanto ermittelt hat.
Die «Altersrentenreform 2020» des Bundesrats sieht auf dem obligatorischen Teil der Zweitsäulevermögen in vier Jahren einen Umwandlungssatz von 6% vor, nach zurzeit 6,8%. Was wäre der mathematisch richtige Satz?
Im überobligatorischen Teil der beruflichen Vorsorge lässt sich schon lange ablesen, was realistisch ist. Da ist der Umwandlungssatz erheblich niedriger. Nur so geht für die Pensionskassen und die Versicherer die Rechnung noch auf. Auf das Ganze bezogen ist zukunftsgerichtet ein Umwandlungssatz in der Grössenordnung von 5% angebracht.
Weshalb schlägt der Bundesrat dennoch 6% vor?
Die 6% dürfen nicht losgelöst betrachtet werden. Es ist das Ansinnen der bundesrätlichen Reform, das jetzige Leistungsniveau beizubehalten. Das ist der stabilisierende Faktor in unserer Altersvorsorge, und das wird von breiten Kreisen akzeptiert, einschliesslich der bürgerlichen Parteien. Die Versicherer unterstützen die Reform nachdrücklich.
Muss mehr Geld fürs Alter bereitgestellt und der Übergang zur Pensionierung hinausgeschoben werden?
AHV und Pensionskasse sind in einer Gesamtschau zu betrachten. Die nationalrätliche Kommission hat eine Stabilisierungsklausel in den Reformvorschlag eingebracht, die in letzter Konsequenz stufenweise zum Pensionierungsalter 67 führen würde. Das ist eine politische Frage. Ich persönlich begrüsse es, dass man das Rentenalter enttabuisiert. Auch der Bundesrat sieht übrigens eine Stabilisierungsregel vor, nur anders finanziert.
Sind die Arbeitgeber mit Blick auf die höheren Sparbeiträge zur Beschäftigung über 65-Jähriger bereit?
Die Arbeitgeber beginnen umzudenken und werden mehr dafür tun, ältere Mitarbeitende länger im Arbeitsprozess zu halten. Ihre Vorsorgebeiträge liegen in der Regel um einen geringen zweistelligen Betrag pro Monat höher und fallen ehrlicherweise nicht ins Gewicht, um Menschen über das reguläre Pensionierungsalter hinaus zu beschäftigen – vorausgesetzt, die betreffende Person ist agil und hält mit der Entwicklung im Arbeitsprozess Schritt. Da sehe ich keinen Hinderungsgrund. Schauen Sie nur, wie Senioren mit der neuen Technologie umgehen. Die meisten haben mit Smartphone und Tablet wenig Probleme. Die einzige Einschränkung ist die körperliche Abnutzung. Wer einen körperlich anstrengenden Beruf hat, kann oft nicht länger arbeiten. Diese Situation ist anders zu beurteilen.
Bleiben Rentenkürzungen tabu?
Das ist letztlich auch wieder eine politische Frage. Persönlich denke ich, dass es unklug, ja ungerecht wäre, bereits laufende Renten zu kürzen. Die wichtigsten Merkmale des Vorsorgesystems sind Verlässlichkeit und Vertrauen. Würde man sich nicht mehr an Garantiezusagen halten, ginge viel Vertrauen verloren. Der Schaden wäre enorm.
Gemäss Empfehlung der eidgenössischen BVG-Kommission soll der Bundesrat den Mindestzins der beruflichen Vorsorge für 2017 von 1,25 auf 1% senken. Was halten Sie davon?
Seit der letzten Festlegung ist das ganze Zinsgefüge deutlich nach unten gerutscht. Deshalb muss der BVG-Mindestzins für 2017 stärker sinken, als die BVG-Kommission vorschlägt. Wir unterstützen die Forderung des Schweizerischen Versicherungsverbands, den Mindestzins auf 0,5% zu vermindern. Das wäre immer noch hoch im Vergleich zu den Zinsen auf dem Bank- bzw. dem Sparkonto.
Die jährliche Zinsgutschrift auf dem individuellen Konto der beruflichen Vorsorge hat wesentlichen Einfluss auf die Rentensumme. Wie gelingt Ihrem Unternehmen ein möglichst gutes Anlageresultat?
Im Investmentbereich sind vermietete Immobilien als Ergänzung von Anleihen, Darlehen und Hypotheken ideal. Auch Dividenden der Aktienanlagen helfen, die Renten zu bezahlen. Das Preisschwankungsrisiko muss aber berücksichtigt werden. Deshalb haben Aktieninvestments in unserem Portefeuille nur rund 4% Gewicht. Swiss Life (SLHN 252.7 0.6%) hat jedoch die garantierten Zinsen des gesamten Kontraktbestands und auch die eigene Zinsmarge auf Jahrzehnte hinaus gesichert. Die dazu nötigen Rückstellungen hat unser Unternehmen in den zurückliegenden Jahren massiv vergrössert.
Wie gefährlich wird es, wenn es im überhitzten Liegenschaftenmarkt zu einer Preiskorrektur käme?
Immobilien sind seit über hundert Jahren ein wichtiger Bestandteil unserer Anlagephilosophie. Rund ein Fünftel des gut 100 Mrd. Fr. grossen Vermögens unseres Schweiz-Geschäfts ruht auf Immobilien. Als grosser institutioneller Anleger verstehen wir, mit den Marktbewegungen über die verschiedenen Zyklen umzugehen. Die Preise von Immobilien sind gestiegen, von einer Überhitzung oder einer Blase kann man jedoch nicht sprechen.
Weshalb hält Swiss Life an Unternehmens- und Staatsobligationen fest, die zum Marktwert betrachtet kaum noch rentieren?
Die aufsichtsrechtlichen Kapitalanforderungen des Schweizer Solvenztests SST favorisieren Zinspapiere, eben beispielsweise Staatsanleihen. Andere Anlageklassen verursachen eine umfangreichere Kapitalhinterlegung.
Gerade die als besonders sicher geltenden Bundesobligationen weisen heute wegen der Notenbankpolitik mehrheitlich eine negative Verfallrendite auf. Erwirbt Ihr Unternehmen dennoch solche Neuemissionen?
Bisher haben wir keine Bundesobligationen zu Negativrendite gezeichnet.
Wie teuer kommt Swiss Life der Negativzins, den Banken auf den Konten von Grosskunden verrechnen?
Cash halten wir fast keines, da unser Geschäft auf Langfristigkeit ausgerichtet ist. Wir haben so bisher auch praktisch keine Negativzinsen bezahlt.
Wie hat das Unternehmen trotz der Niedrigzinslage ein ausgezeichnetes Semesterergebnis vorlegen können?
Vorausschauend ändern wir seit Jahren Stück um Stück das geschäftliche Profil. Wir forcieren Kommissionsgeschäfte, weil sie im Vergleich zur Versicherung wenig Eigenkapital binden. Die profunden Kompetenzen unseres Unternehmens werden für ergänzende Dienstleistungen genutzt, besonders im Immobilienhandel, in der Liegenschaftenverwaltung, im Asset Management sowie für den Vertrieb von Policen anderer Versicherer.
Weshalb vermitteln Sie lieber Produkte von Wettbewerbern, statt die Kunden für das eigene Sortiment zu begeistern?
Unser eigener Aussendienst schlägt den angestammten Kundensegmenten in der Vorsorge ausschliesslich Swiss-Life-Policen vor. Der Geschäftsteil Swiss Life Select aber vermittelt nach dem Best-Select-Ansatz einer tendenziell jüngeren und eher städtischen Kundschaft Angebote des eigenen Hauses wie auch anderer Versicherer. Dabei kommt das in der jeweiligen Konstellation passendste Produkt zum Zug. Mit dem Vertrieb von Fremdprodukten verdienen wir gutes Geld. Unser Unternehmen erhält im Minimum die Vertriebsmarge und etabliert eine zusätzliche Kundenbeziehung.
Sparen die Menschen heute vermehrt individuell, weil dem Vorsorgesystem weniger zugetraut wird?
Der Bedarf ist unbestritten. Das Schweizer Vorsorgesystem ist sicher, aber die zu erwartende Jahresleistung wird wegen zunehmender Lebenserwartung und der niedrigen Zinsen geringer ausfallen. Wer vorausschaut, füllt die Lücke durch eigene Sparanstrengungen.
Profitiert Swiss Life von dieser Situation?
Nicht jeder und jede kann im Budget jährlich über 6700 Fr. unterbringen für die Einzahlung in die steuerbevorteilte Säule 3a. Zudem müssen wir wegen der desolaten Zinssituation die Lebensversicherungspolicen klassischen Zuschnitts mit Kapital- und Zinsgarantie ersetzen durch angepasste Angebote, die begrenzte Garantien, aber dafür grössere Renditechancen bieten.
Was ist noch sicher an Versicherungspolicen ohne Garantiezusage?
Anstelle der garantierten Zinsen wird eine andere Art von Sicherheit bedeutsam, die Beratungsqualität. So finden wir eine den Bedürfnissen des Kunden entsprechende Lösung. Darunter sind ganz neue Investmentprodukte, deren Anlagestruktur vom Kunden mitbestimmt oder gänzlich uns delegiert ist. Der Schlüssel zum Erfolg sind unser Markenname und das Vertrauen des Kunden in unsere Anlagekompetenz.
Berät ein Versicherer besser als eine Bank?
Ob besser oder nicht, will ich gar nicht beurteilen. Das Investmentbedürfnis richtig zu erfassen und die passende Lösung vorzuschlagen, das nenne ich Beratungsqualität. Dazu hilft uns die langjährige Kompetenz und Reputation in der Vermögensverwaltung.
Ein Blick in die Zukunft: Wo wird das schweizerische Vorsorgewesen in zehn Jahren stehen?
Die Bevölkerung nimmt die finanzielle Altersvorsorge immer deutlicher als persönliche Verantwortung wahr. Die Einsicht wächst, dass nur mit Abstrichen eine Lösung gefunden wird. Der Druck auf die Politiker steigt, über Partei- und Ideologiegrenzen hinweg für eine kluge Stabilisierung des Vorsorgesystems einzustehen. Der Bundesrat hat eine umfassende Vorsorgereform vorgelegt, die allen Seiten vertretbare Kompromisse abverlangt. Diese Reform ist dringend und muss deshalb gelingen.
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