Der heutige Fed-Chef hat die Inflation zu spät erkannt. Die aktuelle Geldpolitik wird das Problem nicht lösen. Ein Kommentar von Stephen S. Roach.
Armer Jerome Powell. Nun, da sich die Inflation in den USA einem Vierzigjahreshoch nähert, weiss der Präsident der amerikanischen Notenbank Federal Reserve (Fed), was er zu tun hat. Powell hat grosse Bewunderung für Paul Volcker, seinen Amtsvorgänger in den Achtzigerjahren, bekundet und ihn als Vorbild bezeichnet. Aber, um das berühmte Bonmot von US-Senator Lloyd Bentsen aus dem Jahr 1988 über seinen Rivalen um das Amt des Vizepräsidenten, Senator Dan Quayle, zu bemühen: Ich kannte Paul Volcker sehr gut, und Powell ist kein Paul Volcker.
Volcker war der Inbegriff des amerikanischen Staatsdieners. Er rauchte billige Zigarren, trug zerknitterte Anzüge von der Stange und hegte eine tiefe Abneigung gegen den Glamour der Washingtoner Machtzirkel. Sein Vermächtnis bestand in konsequenter Disziplin in der Bekämpfung der verhängnisvollen grossen Inflation.
Im Gegensatz zum modernen Fed, das unter Ben Bernankes intellektueller Führung ein neues Arsenal an geldpolitischen Instrumenten erschuf – Bilanzanpassungen, spezielle Kreditfazilitäten und die sogenannte «Forward Guidance» hinsichtlich ergebnisabhängiger Politiksignale – gestaltete sich Volckers Ansatz einfach, unverblümt und geradeaus. Einmal sagte er zu mir: «Wenn du nicht bereit bist, an der Zinsschraube zu drehen, kannst du genauso gut den Amtssessel räumen.»
Volcker hob die US-Zinsen in den Jahren 1980/1981 freilich auf ein bis dahin nie dagewesenes Niveau an, und es gab viele, die sich wünschten, er würde tatsächlich seinen Sessel räumen. Doch auch der lautstarke Protest von Bauunternehmern, Landwirten, Bürgerinitiativen und Kongressmitgliedern, die alle seine Amtsenthebung forderten, hielt ihn nicht von einer beispiellosen Straffung der Geldpolitik ab.
Diese war seit langem überfällig gewesen. Unter Volckers Vorgänger Arthur Burns war das Fed zu der Überzeugung gelangt, dass Inflation eben Teil des institutionellen Gefüges der US-Wirtschaft sei. Man ging davon aus, dass das Preisniveau weniger mit Geldpolitik zu tun hat als mit der Macht der Gewerkschaften, der Indexierung der Lebenshaltungskosten und dem regulatorischen Kostendruck durch Umweltschutz, Arbeitssicherheit und staatliche Rentenleistungen.
Burns argumentierte, Öl- und Lebensmittelpreisschocks hätten die institutionellen Verzerrungen einer inflationsanfälligen US-Wirtschaft verstärkt. Mit anderen Worten: Schuld ist das System, nicht das Fed. Der Forschungsstab des Fed, dem damals auch ich angehörte, wand sich zwar, erhob aber keine Einwände.
Als Volcker im August 1979 das Amt des Fed-Präsidenten übernahm, tat er mehr, als sich nur zu winden. Zu dieser Zeit stieg der Verbraucherpreisindex im Jahresvergleich dramatische 11,8% und erreichte im März 1980 gar 14,6%. Volcker war entschlossen, den Schwellenzinssatz zu ermitteln, ab dem es mit der US-Inflation bergab gehen würde. Unter dem politischen Schutz des Humphrey-Hawkins-Gesetzes aus dem Jahr 1978, in dem das Mandat des Fed zur Preisstabilität festgeschrieben worden war, und mit operativer Unterstützung durch die Umstellung auf eine gezielte Steuerung der Geldmenge wurde Volcker aktiv.
Das Fed erhöhte seinen Leitzinssatz von 10,5% im Juli 1979 auf 17,7% im April 1980. Volcker änderte dann seinen Kurs im Laufe eines unbedachten, doch kurzlebigen Experiments mit Kreditkontrollen im Frühjahr 1980, bevor er die geldpolitische Straffung fortsetzte, die den Leitzins Juni 1981 letztlich auf einen monatlichen Spitzenwert von 19,1% brachte. Erst zu diesem Zeitpunkt begann das Fieber der zweistelligen Inflationsraten zu sinken.
Ende 1982, als sich die USA in einer tiefen Rezession befanden, war die jährliche Inflation auf unter 4% gefallen, und das Fed begann mit der Senkung des Leitzinses. In Anbetracht der tief verwurzelten Inflationspsychologie, die Amerika zu diesem Zeitpunkt noch immer im Griff hatte, ging die Notenbank langsam und vorsichtig vor. Volcker hatte der Inflation den Garaus gemacht, wollte aber seinen «Sessel nicht räumen», bevor das Fed seine Mission erfüllt hatte.
Vierzig Jahre später ist Powells Problem ganz offenkundig. Ja, die Welt präsentiert sich heute sicher anders als damals. Aber das moderne Fed verfügt offenbar über kein institutionelles Gedächtnis für die Fehler, die es in der Ära Burns begangen hat. 2021 erlebte man ein erstaunliches Déjà-vu, als die US-Zentralbanker den anfänglichen Inflationsschub als vorübergehend bezeichneten und die Glaubwürdigkeit fest verankerter niedriger Inflationserwartungen verspielten.
Die US-Notenbank betrachtete den Covid-19-Schock auf die gleiche Weise wie die globale Finanzkrise der Jahre 2008/2009 und setzte massive geldpolitische Impulse, um einem ihrer Überzeugung nach lang anhaltenden Nachfragerückgang entgegenzuwirken. Im Nachhinein betrachtet war das ein eklatanter politischer Fehler.
Als nämlich die pandemiebedingten Lockdowns rasch einer Wiederbelebung der Wirtschaft wichen, zog die Gesamtnachfrage, unterstützt durch massive fiskalische Anreize, kräftig an. Angesichts der nun offenbar chronischen Unterbrechungen der Lieferketten hat dieser Aufschwung nach den Lockdowns die grosse Inflation unserer Tage entstehen lassen.
Powells Problem wird deutlicher, wenn man es durch die Linse inflationsbereinigter Realzinsen betrachtet. In den einundfünfzig Monaten, seit er das Fed leitet (bis April 2022), lag der reale Leitzins auf durchschnittlich –1,95% (mit Betonung auf dem Minus). Diese überaus akkommodierende Geldpolitik ist beispiellos in jüngerer Vergangenheit. Unter Burns lag der reale Leitzins acht Jahre lang bei durchschnittlich –0,05%, während Bernankes achtjähriger Amtszeit bei –0,7% und unter dessen Nachfolgerin Janet Yellen vier Jahre lang bei –0,9%.
Im Vergleich dazu lag der reale Leitzins unter Volcker acht Jahre lang im Durchschnitt bei +4,4% (mit Betonung auf dem positiven Vorzeichen). Ungeachtet der neu entdeckten Entschlossenheit des Powell-Fed zur raschen Bekämpfung einer Entwicklung, die es verspätet als gravierendes Inflationsproblem erkannte, vermute ich überdies, dass der Leitzins bis weit ins Jahr 2023 unter der US-Inflationsrate bleiben wird. Damit würde der durchschnittliche Leitzins unter Powell in den neunundfünfzig Monaten bis Dezember 2022 auf –2,25% sinken.
Ich behaupte nicht, Powell müsse Volckers Kampagne zur geldpolitischen Straffung wiederholen. Wenn das Fed jedoch eine Neuauflage der Stagflation Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre vermeiden will, muss es die gewaltige Kluft zwischen Volckers 4,4% Realzinssatz und Powells –2,25% erkennen. Es ist eine Illusion, zu glauben, eine derart akkommodierende Geldpolitik könne Amerikas schlimmstes Inflationsproblem seit einer Generation lösen.
Wie Volcker nimmt auch Powell seine Aufgabe als hoher Beamter sehr ernst. Leider, hätte Bentsen wohl gesagt, endet der Vergleich an dieser Stelle.
Copyright: Project Syndicate.
Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.