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11:49 Uhr - 31.03.2015

«Die Bewertung Deutschlands macht uns nervös»

Norman Villamin, CIO Europe von Coutts, erklärt im Interview mit «Finanz und Wirtschaft», warum er Deutschland für hoch bewertet hält und welche Länder Europas noch Aufholpotenzial haben.

Herr Villamin, die Aufhebung des Euromindestkurses war ein Schock.
Das war ein besonderes Ereignis. Aber wir waren zuvor schon vorsichtig bei Schweizer Aktien, da sie stolz bewertet waren. Die Schweizer Wirtschaft entwickelte sich im Vergleich zum restlichen Europa zwar ordentlich, aber bei den Unternehmen sahen wir keine positiven Gewinnüberraschungen und konnten keinen Auslöser für eine zusätzliche Nachfrage nach Schweizer Titeln sehen. Nach dem Entscheid der Schweizerischen Nationalbank wurden die Gewinnerwartungen reduziert, was uns bestärkte, den Swiss Market Index unterzugewichten.

Norman Villan ist CIO von Coutts.Für Sie stellte die SMI-Korrektur keine Kaufgelegenheit dar?
Für unsere Kunden im Euroraum war der Schock nicht gross: Was sie auf der Aktienseite verloren, gewannen sie auf der Währungsseite. Unter dem Strich resultierte daher kein grosser Verlust. Für einen Schweizer Investor hätte sich tatsächlich eine Kaufgelegenheit ergeben. Aber auch hier stellte sich die Frage der relativen Attraktivität. Nach der Frankenaufwertung wurden europäische Anlagen für Schweizer noch einmal attraktiver.

Was macht eine attraktive Anlage aus?
Was wir suchen, sind Investitionsmöglichkeiten mit mehreren Renditetreibern. Ich nenne diese Hebel. Mögliche Hebel sind eine attraktive Bewertung, eine positive Gewinndynamik oder steigende Ausschüttungsquoten. Wenn ein Hebel nicht funktioniert, bleiben noch weitere, die unterstützend wirken. Wir möchten also eine gewisse Sicherheitsmarge haben.

US-Aktien dürften diesen Anforderungen kaum mehr genügen.
Heute müssen Sie ohne Zweifel höhere Risiken in Kauf nehmen, um eine ansprechende Rendite zu erzielen. Noch vor einem Jahr boten US-Aktien eine gute Gewinndynamik, die Bewertungen waren nicht allzu hoch, die Dividenden wurden erhöht, und der Dollar wurde graduell stärker. Heute sind US-Aktien ziemlich teuer, und der starke Dollar wirkt sich dämpfend auf Wirtschaft und Gewinne aus. Von den ursprünglichen Hebeln bleiben gerade noch Dividenden und Aktienrückkäufe.

Sieht es auf der anderen Seite des Atlantiks besser aus?
Zum Jahresbeginn waren die Bewertungen in Europa günstig, mittlerweile notieren die Märkte rund 15 bis 20% höher.

Zeit zu verkaufen?
Noch nicht. Aber wir würden innerhalb Europas umschichten, von den relativ teuren Märkten in günstigere. In Deutschland nähert sich die Bewertung den Niveaus von 2007, was uns etwas nervös macht. Spanien, das hinter den anderen Ländern Europas zurückgeblieben war, ist aber weiterhin sehr attraktiv. Viele Anleger machen sich Sorgen wegen der Wahlen. Aber eine wirtschaftliche Erholung wirkt Wunder gegen soziale Unzufriedenheit. Zieht die Wirtschaft an, sind die Leute einer Regierung wohlgesinnt. Angesichts der verbesserten Wirtschaftsdaten mache ich mir deshalb keine grossen Sorgen.

Was sind die weiteren Hebel?
Der schwache Euro hilft, die Wirtschaft erholt sich, die Gewinne überraschen positiv, und die Dividenden sind gut gedeckt. Zudem behindert die Wirtschaftspolitik die Entwicklung nicht mehr.

Welche Länder ausser Spanien haben Potenzial?
Von den grossen Märkten erscheint uns Italien nach wie vor interessant. Zusammen mit Spanien gehört Italien zu den attraktivsten Märkten in Europa.

In den Börsenindizes beider Länder haben Finanzwerte ein sehr grosses Gewicht.
Europäische Banken sind einen Blick wert. Nicht nur erholt sich das Kreditwachstum, auch die Bilanzqualität hat sich verbessert. Rückstellungen können  reduziert werden. Das ist die erste Phase in der Erholung europäischer Banken. Zudem spiegeln die günstigen Bewertungen die positiven Überraschungen zu wenig.

Wie schätzen Sie Japan ein?
Ende 2013 begann die japanische Notenbank ihr Programm zur quantitativen Lockerung. Seither beobachten wir in Japan vermehrt Restrukturierungen und Massnahmen zur Effizienzsteigerung, die sich nun in der Profitabilität der Firmen niederschlagen. Auch nach der Rally sind die Bewertungen deshalb erst auf dem Niveau von 2004. Das Bewertungsargument erscheint uns in Japan am stärksten.

Viele Anlageklassen sind hoch bewertet. Ist im aktuellen Umfeld ein höherer Bargeldbestand sinnvoll?
Ja, es ist wichtig, über genügend Spielraum zu verfügen, sollten die Märkte korrigieren. Des Weiteren funktioniert die in der Vergangenheit beobachtete negative Korrelation zwischen Anleihen und Aktien heute weniger gut. Fallende Bondpreise waren in der Regel von steigenden Aktienkursen begleitet, und umgekehrt. Bei den aktuell tiefen Zinsen funktioniert diese risikodämpfende Diversifikation nicht mehr optimal. Ein höherer Bargeldbestand hilft in diesem Umfeld.

Auch falls das Fed die Zinsen erhöht?
Genau. Wir gehen davon aus, dass das Fed 2015 den Zinsnormalisierungsprozess einläuten wird. Aber wir denken nicht, dass es wie unter dem ehemaligen US-Notenbankpräsidenten Alan Greenspan sein wird, der bei jeder Sitzung einen Zinsschritt vollzog. Das Fed wird äusserst vorsichtig vorgehen und die Auswirkungen der einzelnen Schritte genau verfolgen. Wenn das Fed einen Fehler macht, dann wird er darin bestehen, dass es die Zinsen zu zögerlich anhebt.

Sehen Sie attraktive Investitionsmöglichkeiten in Schwellenländern?
Ja, durchaus. So überzeugt uns zum Beispiel die Reformagenda Indiens.

Spiegeln das die Aktienkurse nicht bereits?
Das ist genau unser Problem. Die heutige Ausgangslage in Indien ist vergleichbar mit derjenigen kurz nach 2000. Das globale Wachstum ist nicht berauschend, deshalb suchen wir Länder, Sektoren und Unternehmen, die ihren Gewinn steigern können, ohne auf aggressives Umsatzwachstum angewiesen zu sein. Das Ziel ist es, die Margen auszuweiten und die Bilanz effektiver zu steuern. Um 2000 waren genau das die Treiber in Indien – steigende Margen, ein effizienterer Einsatz des Gesamtkapitals usw. –, die zu einer Bewertungsexpansion führten. Das Gleiche könnte nun wieder geschehen. Aber eben, die Bewertungen sind sportlich. Langfristig sieht Indien gut aus, aber vorerst gibt es bessere Optionen.

Welche?
Russland zum Beispiel. In der zweiten Hälfte des letzten Jahres waren wir der Meinung, Russland biete viele dieser eingangs erwähnten Hebel – extrem günstige Bewertungen, hohe Dividendenrenditen und so weiter. Meiner Meinung nach sind vor allem die «nicht regierungsnahen» Unternehmen in Russland attraktiv.

Aber sind diese Unternehmen nicht teuer?
Im Vergleich zu anderen russischen Firmen sind sie tatsächlich teuer. Aber absolut gesehen handeln sie auf attraktivem Niveau, und das Risiko-Rendite-Profil überzeugt. Ist Russland deshalb eine grossartige Investitionsgelegenheit? Nein, aber verglichen mit anderen Schwellenländern durchaus einen genaueren Blick wert.

Wie schätzen Sie Brasilien ein?
Das politische Umfeld in Brasilien ist äusserst schwierig, das wirtschaftliche Umfeld ebenfalls, während die externen Treiber für eine Erholung kaum überzeugen. Die Bewertungen  sind jedoch attraktiv.

Attraktiv genug, um zu investieren?
Nein. Ich möchte mehrere Hebel haben, bevor ich investiere. In Brasilien erhalte ich aber nur einen, die günstige Bewertung. Dies ist nicht gut genug.

Wie schätzen Sie China ein?
Ähnlich wie in Russland sehen wir einen zweigeteilten Markt. Das konsumorientiert «neue China», das sich gut entwickelt, und das weniger dynamische und staatsnahe «alte China», das aber unter anderem eine ansprechende Dividendenrendite von 5 bis 6% bietet. Erfreulicherweise sehen wir Ansätze, dass wichtige Reformen angepackt werden. Die Regierung möchte erreichen, dass die «neue Wirtschaft» zum wichtigsten Wachstumstreiber wird. Sie wächst sehr schnell, macht aber noch immer weniger als 50% der Wirtschaft aus. Aber dank zunehmender Bedeutung des Konsums wird die chinesische der amerikanischen Wirtschaft in einigen Jahren deutlich ähnlicher sehen.

Ist das «neue China» attraktiv bewertet?
Es ist sicher nicht mehr günstig, aber angesichts des robusten Wachstums immer noch interessant. Im langsamer wachsenden Teil der Wirtschaft ist mit Restrukturierungen zu rechnen, und gewisse Immobilienunternehmen werden Konkurs anmelden. Allerdings bezahlen Banken eine Dividendenrendite von 4 bis 5% und handeln zu einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von eins oder weniger. Natürlich werden einige von ihnen Abschreibungen vornehmen müssen – aber das Risiko-Rendite-Verhältnis ist vernünftig. Insgesamt liegt China zwischen Russland und Brasilien, ist für langfristige Anleger also interessant.

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