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18:11 Uhr - 04.05.2018

Karl Marx: Der Untergang wird abgesagt

Die Wirtschaft der Eurozone schwebt noch immer ein Hauch über der Depression. Der Währungsraum könnte etwas lernen vom Untergangspropheten des Kapitalismus, der heute 200 Jahre alte geworden wäre.

Profite können ein Fluch sein, besonders wenn sie sinken. Dieser Satz kommt einem in den Sinn, wenn jemand fragt, was Karl Marx und eine wirtschaftsliberale Zeitung wie «Finanz und Wirtschaft» gemein haben. Keine Angst, auch zu seinem 200. Geburtstag werden wir hier nicht in Lobeshymnen einstimmen, auch wenn wir ständig über operative Gewinne und Cashflows schreiben – ungefähr das, was auch Marx unter Profit verstand. Die Schwärmereien der Intellektuellen überlassen wir lieber den Feuilletons.

Vielleicht sollten wir aber nicht alles beiseiteschieben, was Marx im 19. Jahrhundert über den Kapitalismus herausgefunden hat. Natürlich sah er nicht voraus, zu welchem Wohlfahrtsgewinn die wirtschaftliche Freiheit gerade im 20. Jahrhundert fähig war und noch immer ist. Gleichwohl war sein grosses Thema, wie die wirtschaftliche Freiheit sich regelmässig selbst gefährdet.

Für Marx sind die regelmässig auftretenden Wirtschaftskrisen jedenfalls kein Fehler des Systems, sondern sie gehören seit fast 200 Jahren wesentlich dazu. So hat Marx zwar nie bestritten, dass Angebot und Nachfrage die Marktpreise in Bewegung setzen. Dass sie allerdings auch zu einem Gleichgewicht führen, das war ihm suspekt. Selbst das, was moderne Makroökonomen heute darunter verstehen. Und doch hat er theoretisch herausgefunden, was passiert, wenn eine Volkswirtschaft in eine Konjunkturkrise rutscht.

Eine prosperierende Volkswirtschaft charakterisiert sich dadurch, dass mehr und mehr Unternehmen in den Ausbau ihres Kapitalstocks investieren: Sie kaufen Maschinen oder Geräte oder bauen Wirtschaftsgebäude. Das geht regelmässig so weit, dass die Neuinvestitionen schneller wachsen als die Nachfrage der Privathaushalte nach Gütern und Dienstleistungen. Genau in dieser aufgehenden Schere sah Marx letztlich den Grund für jede Rezession: Ein Aufschwung bedeutet beschleunigten Kapitalaufbau oder auch steigende Neuinvestitionen, die die Produktivität und damit die Profitabilität steigern. Ein Abschwung, wenn der Kapitalaufbau langsamer wird, die Neuinvestitionen sinken, ist für keine Marktwirtschaft erstrebenswert. Dann sinken die Profite, steigt die Arbeitslosigkeit und verschärfen sich soziale Spannungen.

Doch was genau passierte in der Grossen Depression der Dreissiger in den USA? Der Kapitalaufbau verlangsamte sich nicht nur, wie sonst in «normalen» Rezessionen üblich. Er hörte ganz auf, die Kapitalakkumulationsraten wurden gar negativ, was die Volkswirtschaft noch über Jahre lähmen sollte.

Wie verschieden war dagegen die Krisenreaktion der Amerikaner in der grossen Rezession während der Finanzkrise. Wieder stand der Kapitalaufbau kurzzeitig still, doch halfen Regierung und Notenbank, wie es nur ging, eine neue Depression zu verhindern. Was für ein Gegensatz zum Euroraum, wo noch bis 2017 der Wert des Kapitalstocks in einem Fünftel des Währungsraums schrumpfte. Wer die wirtschaftliche Freiheit also mit Marx vor ihr selbst retten will, muss um jeden Preis verhindern, dass der Kapitalstock jemals länger schrumpft. Sonst wird Marx tatsächlich noch recht behalten – als Untergangsprophet des Kapitalismus.

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