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13:38 Uhr - 22.06.2016

«Der monetäre Irrsinn ist die absolute Norm»

Jean-Marie Eveillard und Edward Chancellor fürchten sich vor der riesigen Preisblase in Staatsanleihen. Der mögliche Brexit ist für sie eher Chance als Risiko.

Eigentlich kümmern sich Value-Investoren nicht um das wirtschaftliche Umfeld. Doch das sei derzeit gefährlich, finden Value-Legende Jean-Marie Eveillard und Wirtschaftshistoriker Edward Chancellor. In der Paneldiskussion an der diesjährigen Value Intelligence Conference in München äussern sich die beiden zur Bedeutung des Kreditzyklus in einer überschuldeten Welt, zu den Konsequenzen der geldpolitischen Exzesse und den wenigen Möglichkeiten, sein Vermögen vor der nächsten Krise zu schützen. Organisiert wurde der Anlass, der bereits zum elften Mal stattfand, von der Münchner Investmentboutique Value Intelligence Advisors.

Herr Eveillard, Herr Chancellor, ist der Brexit für Value-Investoren ein Thema?
Chancellor: Kurzfristig dürften die Börsen reagieren, sollte Grossbritannien für den Austritt aus der EU stimmen, langfristig hält sich der Einfluss aber in Grenzen. Deutschland hat im Zweiten Weltkrieg seinen ganzen Kapitalstock ausgelöscht. Fünfzehn Jahre nach Kriegsende wurde der Vorkriegstrend bei der Wirtschaftsleistung pro Kopf wieder erreicht. Das Gleiche galt für Italien und Frankreich. Diese kurzfristigen Schocks haben langfristig keine Bedeutung, und das haben Value-Investoren erkannt. Deshalb sollte der Brexit, sofern er denn eintritt, keine Rolle spielen – im Gegenteil, er könnte sogar eine Gelegenheit bieten, falls der Markt überreagiert.

Das sehen viele Experten anders.
Zu den PersonenJean-Marie Eveillard (75) ist einer der erfolgreichsten Value-Investoren. Mit Ausnahme von 2008 erlitt der von ihm verwaltete Fonds in nur zwei der dreissig Jahre unter seiner Ägide einen marginalen Verlust. Dafür verlieh ihm Morningstar 2003 den ersten Lifetime Achievement Award überhaupt. Nach seinem Wirtschaftsstudium in Paris stieg Eveillard 1962 bei der französischen Grossbank Société Générale ein, für die er sechs Jahre später nach New York übersiedelte. 1979 übernahm der gebürtige Franzose den SoGen International Fund, der später in First Eagle Global Fund umbenannt wurde. Seit seinem Rückzug 2009 berät er das Fondshaus.

Edward Chancellor (53) ist Wirtschaftshistoriker, Journalist und Anlagestratege. Der Brite, der regelmässig Kolumnen für die «Financial Times», Reuters und andere Titel schreibt, war zehn Jahre lang Mitglied im Asset-Allocation-Team des Bostoner Value-Managers GMO. Bekannt wurde er als Autor mehrerer Bücher, darunter «Devil Take the Hindmost» über Finanzspekulation, das 1999 kurz vor dem Platzen der Technologieblase erschienen ist. Eben herausgekommen ist das von ihm redigierte Buch «Capital Returns» über die Bedeutung des Kapitalzyklus. Chancellor hat an den Universitäten von Cambridge und Oxford Geschichte der Neuzeit studiert.
Chancellor: Die Warnungen der OECD und anderer Institutionen zeigen, dass die politischen Entscheidungsträger kurzfristige Verwerfungen mit allen Mitteln vermeiden wollen. Der Preis dafür ist aber ein Anstieg der langfristigen Volatilität. Das ganze Europrojekt hatte zum Ziel, die Währungsschwankungen auszuräumen. Der Effekt sind sich mehrende politische  Umbrüche fünfzehn Jahre später. Der Brexit hat keine gravierenden wirtschaftlichen Konsequenzen. Deshalb sollten Value-Investoren auch nicht darauf achten.

Abgesehen vom Brexit: Wie schätzen Sie das gegenwärtige Umfeld ein?
Eveillard: Als Antwort auf die Finanzkrise haben die Zentralbanken in den USA, Europa und Japan noch nie dagewesene Massnahmen ergriffen. Doch schon vor der Krise, eigentlich seit dem Zweiten Weltkrieg, schritt die US-Notenbank Fed immer schnell ein, wenn Wirtschaft und Märkte einknickten. Verbesserte sich dann die Lage, reagierte das Fed sehr langsam auf die Tatsache, dass zwischenzeitlich wegen seiner lockeren Geldpolitik ein Kreditboom entstanden war. Die wenigsten Zentralbanker und Ökonomen kümmern sich darum, was an den Kreditmärkten geschieht.

Was läuft an den Kreditmärkten schief?
Eveillard: Dank der Österreichischen Schule der Nationalökonomie weiss man, dass auf jeden Kreditboom das böse Erwachen folgt. Diese noch nie dagewesenen monetären Massnahmen, die zu negativen Zinsen in Europa und Japan geführt haben und wohl irgendwann auch in den USA führen werden, haben unbeabsichtigte negative Konsequenzen zur Folge. Der Preis des Geldes ist wahrscheinlich der wichtigste Preis, und Geld sollte nicht gratis sein. Wie in Japan in den Neunzigerjahren gibt es wegen der Geldpolitik des Fed mittlerweile auch in den USA viele Zombie-Firmen, die nicht überleben würden, wenn die Zinsen höher wären.

Wie schätzen Sie die präzedenzlosen monetären Massnahmen ein, Herr Chancellor?
Chancellor: So präzedenzlos sind diese Massnahmen gar nicht. Mich erinnern die quantitativen Lockerungen – Quantitative Easing oder kurz QE – an das Mississippi-Schema zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Nach dem Tod des Sonnenkönigs Louis XIV waren Zinsen und Schulden in Frankreich viel zu hoch. Deshalb rief der Schotte John Law auf Wunsch des Herzogs von Orléans die erste Zentralbank ins Leben. Die Banque Générale gab Papiergeld aus und kaufte damit Aktien der Mississippi Company, die wiederum die Staatsschulden aufkaufte – also wie beim QE.

Was waren die Folgen dieses Kniffs?
Chancellor: Die Zinsen sanken von 8 auf 2%, was einen künstlichen Börsenboom auslöste, der der Wirtschaft aber nicht viel Gutes tat. Das Geld, das Law schöpfte, blieb im Finanzsystem hängen, was einige sehr reich machte, die Konjunktur aber nicht nachhaltig anschob. Die zunehmende Vermögensungleichheit ist eine der unbeabsichtigten Konsequenzen von QE. Die Ungleichheit stieg auf ein politisch untragbares Niveau, das die Leute gegen das kapitalistische System aufgebracht hat. Law war der erste monetäre Sonderling, der glaubte, mit der Manipulation des Geldes die Wirtschaft beeinflussen zu können. Heute ist der monetäre Irrsinn die absolute Norm.

Gibt es weitere Parallelen?
Chancellor: Damit das System funktioniert, braucht es immer mehr Stimulus – in dem Moment, wo das Vertrauen in das Schema nachlässt, platzt die Blase. Zudem kritisierte der irisch-französische Ökonom Richard Cantillon seinen Zeitgenossen Law, weil die Geldschwemme in Frankreich in andere Länder überschwappte und die Wechselkurse beeinflusste.

Was ist das heutige Pendant zur Mississippi-Blase?
Chancellor: Chinas Geldmenge relativ zum globalen Bruttoinlandprodukt ist zwei- bis dreimal grösser als sein wirtschaftliches Gewicht, es gibt dort also viel zu viel Liquidität. Sein Kreditsystem ist faul bis ins Mark – das Land ist heute im Vergleich zum BIP höher verschuldet als Japan 1989. In China besteht also die grösste Fehlallokation aller Zeiten, sie wird irgendwann in eine Krise münden. Dann wird dieses Geld aus dem Land abfliessen und zu einem Kollaps führen wie damals von Cantillon für das Mississippi-Schema vorausgesagt.

Wie präsentiert sich die Lage in den Industrieländern?
Chancellor: Dort sind wir wohl am Ende des Schulden-Superzyklus angelangt. Der Privatsektor leiht sich trotz rekordtiefen Zinsen kein Geld, weil die Verschuldung zu hoch ist. Deshalb können die Zentralbanken die Privathaushalte nicht dazu verleiten, weiteren Konsum aus der Zukunft vorwegzunehmen. Wir haben die Zukunft verkonsumiert. Das erinnert an Japan, wo der Kreditzyklus über 25 Jahre abwärts zeigte.

Dafür sprang dort der Staat ein, der sich massiv verschuldete. Es gibt Ökonomen, die das unbedenklich finden.
Eveillard: Japanische Staatsanleihen haben sich lange gut gehalten. Die Fundamentaldaten können temporär keine Rolle spielen, bis sie dann doch plötzlich in den Fokus der Märkte rücken. Die Verschuldung ist so hoch, dass das Risiko eines Verlusts – sei es durch Inflation oder Zahlungsausfall – permanent gegeben ist. Das gilt heutzutage für Japan, aber auch für die USA und Frankreich. Seit 1974, dem Ende der dreissig gloriosen Nachkriegsjahre, war das französische Budget nie ausgeglichen.

Chancellor: Staatsschulden spielen eine Rolle. Wir halten alle Staatsanleihen, und Staatsanleihen sind auch unsere künftigen Steuern – darüber hinaus sind sie wertlos. Was mich beunruhigt: Das Vermögen der Privathaushalte, inklusive Aktien und Staatsanleihen, ist heute im Vergleich zur Wirtschaftsleistung höher als je zuvor. Der frühere Fed-Chef Ben Bernanke hat die Bewertung sämtlicher Anlageklassen auf nie dagewesene Niveaus gepusht. Darum befinden sich Staatsanleihen heute in einer riesigen Blase, die der Schlüssel ist zur hohen Bewertung aller anderen Anlageklassen.

Was bewirkt diese Blase in Staatsanleihen?
Chancellor: Entweder bleiben die Zinsen so niedrig, und Sie verdienen über die nächsten Jahre nichts mehr, oder die Bondpreise kollabieren und bieten wieder eine ansprechende Verzinsung. Es gibt also zwei Höllen, die eine ist dauerhaft, die andere kurzfristig, aber äusserst schmerzhaft.

Welche dieser Höllen ist wahrscheinlicher?
Chancellor: Es scheint, als hätten niedrige Zinsen niedrige Zinsen zur Folge – und zwar dreifach. Erstens ist der Schuldenberg viel zu hoch – die Zinsen können schlicht nicht angehoben werden, ohne dass das Kartenhaus einstürzen würde. Zweitens kreieren sie eine Sklerose mit Zombie-Unternehmen. Und drittens scheinen sie deflationär zu wirken.

Inwiefern befeuern die niedrigen Zinsen die Aktienbewertungen?
Chancellor: Ich frage mich, warum die Profitabilität so hoch ist, wenn die Kapazitätsauslastung und die Zinsen so niedrig sind. Normalerweise korrelieren diese Grössen. Das heisst, die Gewinne der letzten Jahre könnten eine Illusion sein. Sollte diese Illusion platzen, brechen die Börsen ein.

Eveillard: Es gibt Ökonomen, die die höhere Profitabilität mit der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors begründen, der viel profitabler arbeitet als die Industrie – vor allem was die Eigenkapitalrendite angeht, da der Servicesektor weniger kapitalintensiv ist. Dazu werden Dienstleistungen lokal erbracht, was oligopolistische Strukturen und damit höhere Margen ermöglicht. Ich bin mir aber nicht sicher, ob diese Argumente zutreffen.

Nach der Krise haben die Unternehmen ihre Kosten gesenkt, was der Profitabilität ebenfalls zuträglich war.
Chancellor: Allerdings können Sie nicht einfach Kosten senken, ohne die Nachfrage zu beeinflussen – es sei denn, die Nachfrage wird mit Kredit aufrechterhalten. Nur ist das eine künstliche und damit nicht nachhaltige Ankurbelung.

Die Zentralbanken werden oft kritisiert, auch von Ihnen. Was sollten sie denn anders machen?
Eveillard: Für einen Kurswechsel ist es zu spät, die Notenbanken sind Gefangene ihrer eigenen Politik. Damit Kapitalismus funktioniert, braucht es auch Verluste. Heute herrscht Günstlingswirtschaft. Früher trug der Unternehmer die Verantwortung für Gewinn und Verlust. Heute streicht der Manager den Gewinn ein. Macht er aber Verlust, ruft er Washington zur Hilfe, und der Steuerzahler übernimmt den Schaden – das ist monströs, höchst unfair und befeuert risikoreiches Verhalten. Oder verstehen Sie, warum kein amerikanischer Banker ins Gefängnis gewandert ist?

Wie reagieren die Notenbanken in der nächsten Krise?
Chancellor: Beim nächsten Einbruch werden die Zentralbanken noch viel weiter gehen als bisher. Professionelle Investoren scheinen in Bezug auf Helikoptergeld – die direkte Liquiditätszufuhr an Regierungen und Privathaushalte – ziemlich zuversichtlich zu sein. Durch die resultierende Inflation würde die übermässige Verschuldung real abgebaut, und die Zinsen könnten wieder steigen. Dadurch würden an Anleihen- und Aktienmärkten aber die Bewertungen kollabieren. Zwar gingen wir zurück zur Normalität, nur würden auf dem Weg dahin massive Verluste anfallen. Tiefe Zinsen schaffen eine Vermögensillusion – wir fühlen uns reicher, als wir tatsächlich sind.

Im Gegensatz zu 2000 und 2008, als verschiedene Marktsegmente günstig waren, gibt es heute kaum Versteckmöglichkeiten. Wie schützt man sich vor dem Ausbruch einer Krise?
Chancellor: Das stimmt – heute ist nicht einmal Bargeld sicher, weil das Risiko besteht, dass die Zentralbanken über ihre Anleihenkaufprogramme die gesamte Staatsverschuldung in Cash umwandeln und damit die Inflation anheizen. Mehr als eine inflationsbereinigte Rendite von 2% ist mit einem gemischten Portfolio über die nächsten Jahre kaum möglich. 5% sind nur realistisch, wenn sich Bewertungen und Kurse halbieren.

Eveillard: Eine Kombination aus Aktien, Cash und Gold (Gold 1267.71 -0.1%) scheint mir vernünftig.

Sind all diese Überlegungen zum wirtschaftlichen Umfeld für Value-Investoren überhaupt relevant?
Eveillard: Bis 2008 waren viele Value-Manager reine Bottom-up-Investoren, die das Geschäftsmodell des Unternehmens verstehen wollten und bei günstiger Bewertung kauften. Das reicht heute nicht mehr, das Umfeld – vor allem die Dynamik an den Kreditmärkten – muss analysiert werden.

Chancellor: Das sehe ich genauso. Value-Investoren sollten sich nicht nur auf die Unternehmensanalyse beschränken, sondern auch den Kreditzyklus in Betracht ziehen.

Wo Value-Investoren noch fündig werdenDer Anlagenotstand hat die Bewertung der meisten Anlageklassen in stattliche Höhen getrieben. Besonders die Aktien von Qualitätsunternehmen sind teils stolz bewertet. Ist es in diesem Umfeld überhaupt möglich, attraktive Titel aufzuspüren? Dieser Frage gingen an der Value Intelligence Conference in München namhafte Value-Anleger nach.

Giorgo Caputo von First Eagle Investment Management mag die in Hongkong domizilierte, weltweit tätige Luxushotelgruppe Mandarin Oriental. Anders als viele Konkurrenten besitzt Mandarin die Hotelgebäude teilweise selbst. Da die Aktie 50% unter ihrem adjustierten Buchwert handelt, kauft man sie erstklassigen Immobilien mit massivem Abschlag. Dies, obwohl die Gruppe vom wachsenden Tourismus in Asien profitiert und Hotels auch im Vertragsverhältnis betreibt, was kaum Kapital bindet.

Georg von Wyss von der Schweizer Vermögensverwaltung Braun, von Wyss & Müller präsentierte mit der kriselnden italienischen Banca Monte dei Paschi die Siena den wohl kontroversesten Titel. Das mit massiven notleidenden Krediten kämpfende Institut werde vom Markt unterschätzt. Die Rückstellungen sollten ausreichend bis grosszügig sein, und neue Gesetze begünstigen den Abbau der faulen Kredite.

Peter Seppelfricke und Thomas Wiedemann vom Veranstalter Value Intelligence Advisors setzen dagegen auf Unternehmen, die ansprechende Kapitalrenditen erwirtschaften. Angetan haben es den beiden die Titel des britischen Caterers Compass Group, der dank langfristigen Verträgen stabile Einnahmen erzielt. Da das Geschäft kaum Kapital bindet, sind die Renditen hoch. Dazu profitiert das Unternehmen vom Trend zur Auslagerung.

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