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13:14 Uhr - 18.09.2018

«Das System wurde missbraucht»

Muhammad Yunus, Pionier der Mikrokredite, kritisiert Fehlentwicklungen im Finanzsystem – und schlägt Massnahmen vor, wie sie behoben werden könnten.

Muhammad Yunus ist vieles: Gründer der Grameen Bank, die gemeinhin als Mutter aller Mikrofinanzinstitute gilt, Träger des Friedensnobelpreises, Ehrendoktor unzähliger Universitäten – und vor allem ein sympathischer, hoch interessanter Gesprächspartner. «Finanz und Wirtschaft» hat den 78-jährigen Bengalen anlässlich der Businesskonferenz Gennex in Dübendorf zum Interview getroffen.

Herr Yunus, seit der Gründung der Grameen Bank 1983 sind viele Jahre vergangen. Welche Entwicklungen in der Mikrofinanz haben Ihre ursprünglichen Erwartungen übertroffen, welche haben sie verfehlt?
Ich hätte nicht gedacht, dass sich die Grameen Bank und die Mikrofinanz zu einem weltweiten Phänomen entwickeln. Ich bin sehr glücklich, dass die Idee rund um den Globus übernommen wurde.

Und was hat Sie enttäuscht?
Enttäuscht haben mich zwei Dinge: In diversen Fällen wurde die Grundidee missverstanden und das System missbraucht. Wucherzinsen wurden erhoben und Kreditnehmer massiv unter Druck gesetzt. Dabei haben wir Mikrokredite ja gerade geschaffen, um Menschen aus der Armut zu holen respektive sie aus den Fängen von Kredithaien zu befreien – und nicht, um auf ihrem Buckel Geld zu machen.

Was ist der zweite Punkt?
Eigentlich habe ich gedacht, die Finanzbranche würde die Idee willkommen heissen. Mehrere Jahrzehnte nach der Gründung der Grameen Bank ist die Mikrofinanz aber leider noch immer nur eine Randerscheinung. Fast die Hälfte der Weltbevölkerung wird weiterhin nicht durch Finanzdienstleistungen abgedeckt. Dabei haben wir mehrfach bewiesen, dass dies auf eine nachhaltige Weise geschehen kann. Das ist wirklich frustrierend.

Welche Folgen hat die mangelnde Berücksichtigung dieser Bevölkerungsteile?
Wer keinen Sauerstoff bekommt, kollabiert. Und das Finanzsystem ist wie ökonomischer Sauerstoff. Wenn wir Menschen nicht in das Finanzsystem eingliedern, können sie nicht funktionieren. Warum soll man ärmeren Bevölkerungsschichten den Zugang verwehren? Weil es finanziell zu riskant ist? Dieses Argument macht keinen Sinn. Wir haben mehrfach bewiesen, dass die Rückzahlungsraten in der Mikrofinanz höher sind als im traditionellen Kreditgeschäft.

Sie kritisieren, dass sich die Mikrofinanz vielerorts von der sozialen Grundidee entfernt hat. Mit welchen Massnahmen und Regeln könnte das verhindert werden?
Anschauungsunterricht gibt Indien. Hier kam es zu Auswüchsen, die zu grossen sozialen Problemen geführt haben. Deshalb hat sich die indische Zentralbank eingeschaltet. Unter anderem wurde eine Zinsobergrenze eingeführt und klar definiert, wie Zinsen gemessen werden. Das hat die Problematik zumindest gelindert.

Eine strengere Regulierung ist die Antwort?
Ja, aber mit neuen, unabhängigen Regulierungsbehörden, die von den traditionellen Regulatoren entkoppelt sind. Denn Letztere verstehen nicht, wie Mikrofinanz funktioniert. Auch muss klar definiert werden, dass Darlehen nur für einkommensgenerierende Zwecke eingesetzt werden dürfen – und nicht für den Kauf von Konsumartikeln wie etwa einem Fernseher. Letzteres ist zwar durchaus legitim, sollte aber nicht unter der Bezeichnung Mikrofinanz laufen.

Unter wohlklingenden Begriffen wie «Impact Investing» drängen immer mehr etablierte Finanzinstitute wie Asset-Manager und Grossbanken auf den Markt. Halten Sie diesen Trend für erfreulich oder gefährlich?
Ich denke, es ist durchaus eine gute Entwicklung – solange sich die Akteure an die Regeln und die genannten Prinzipien halten. Meine Kritik bleibt aber die folgende: Die Aktivitäten dieser Finanzinstitute sind – verglichen mit ihrer traditionellen Geschäftstätigkeit – ziemlich gering. Banken, die wirklich daran interessiert sind, Menschen über Mikrofinanz zu helfen, müssten eine zweckbestimmte Tochtergesellschaft gründen. So wären sie zu Transparenz verpflichtet. Parallel dazu müssten die Behörden ein neues Bankengesetz einführen. Das etablierte System ist faktisch ein «Banking für die Reichen». Es braucht allerdings unbedingt auch ein «Banking für die Armen».

Der Durchbruch nachhaltiger Investitionen wird dadurch behindert, dass sich die Wirkung oft nicht zuverlässig messen lässt. Wie kann dieses Hindernis überwunden werden?
Bei traditionellen Banken für die Reichen wird auch nicht nach dem Impact gefragt, den die vergebenen Darlehen auslösen. Weshalb fordert man dies – sofern das Kapital für einkommensgenerierende Zwecke verwendet wird – dann bei den Armen? Die Kreditvergabe an solche Bevölkerungsschichten ist ein legitimes Business – Geld wird verliehen, Geld wird zurückgezahlt. So einfach ist das.

Das Problem ist, dass viele Marktakteure den sozialen Impact hervorheben – und mit dieser Behauptung Werbung machen.
Das Einzige, was für den Imageaufbau benötigt wird, ist folgender Zusammenhang: Wer tausend Mikrofinanzkunden bedient, hat tausend Personen den Zugang zum Finanzsystem ermöglicht. Wer hunderttausend Kunden hat, hat dies mit hunderttausend Personen geschafft. Das ist der Impact. Was die Kreditnehmer konkret mit dem Geld machen, können im Nachgang gerne Researcher untersuchen. Das ist aber nicht die Aufgabe der Kreditgeber.

Welche Segmente ausserhalb des Finanzsektors können von der langjährigen Erfahrung in der Mikrofinanz profitieren?
Da gibt es viele Gebiete. Auch die Grameen Bank hat ihr Spektrum stetig erweitert, etwa im Gesundheitsbereich. Uns wurde beispielsweise rasch das Problem mangelnder Hygiene bewusst, weil jeder seine Notdurft irgendwo im Freien verrichtete. Wer Kreditnehmer bei Grameen werden wollte, musste deshalb ein Loch graben und es fortan als Toilette benutzen. Später gründeten wir ein Unternehmen, das selbst in abgelegenen Gemeinden sanitäre Anlagen baut. Und wir führten eine Krankenversicherung ein – inklusive medizinischem Personal, das von Haus zu Haus geht und die Leute untersucht.

Welche Funktionen können Mikrofinanzinstitute sonst noch erfüllen?
Immer wieder kommt es in Bangladesch zu Flutkatastrophen, die vor allem den ärmsten Bevölkerungsschichten gewaltigen Schaden zufügen. Das gesamte in Nutztiere oder in ein Geschäft investierte Kapital wird dabei weggeschwemmt. Wir haben ein System entwickelt, mit dem einerseits der lokalen Bevölkerung geholfen werden kann, wir andererseits aber auch kein Geld verlieren.

Wie sieht dieses Konzept aus?
Kommt es zu einer Flutkatastrophe, wird es für jede Grameen-Niederlassung zur wichtigsten Aufgabe, der lokalen Bevölkerung zu helfen. Jede Filiale ist dabei berechtigt – ohne sich mit der Zentrale absprechen zu müssen –, das Kapital der Bank für Notfallmassnahmen einzusetzen. Oberste Priorität ist, Menschen zu retten – das heisst, sie an einen sicheren, trockenen Ort zu bringen und die Versorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu gewährleisten – so lange, bis sie an ihren Wohnort zurückkehren können.

Was passiert im Katastrophenfall mit den ausstehenden Darlehen?
Die bereits bestehenden Kredite werden in Langfristdarlehen umstrukturiert. Sie bleiben in den Büchern, aber die Rückzahlungskonditionen werden zu einem späteren Zeitpunkt neu verhandelt.

Seit rund zehn Jahren gibt es Grameen America, eine Organisation, die in zahlreichen US-Metropolen Mikrokredite vergibt. Welche Unterschiede sehen Sie zwischen Industrie- und Schwellenländern?
Es gibt keine Unterschiede. Das Prinzip ist identisch. Für den Aufbau des Geschäfts haben wir jemanden aus Bangladesch in die USA entsandt und ihm im Vorfeld eingetrichtert: «Egal, was Dir dort gesagt wird, mache alles gleich wie hier.» Er hat unseren Rat wörtlich genommen – mit grossem Erfolg. Inzwischen betreibt Grameen America zwanzig Zweigstellen und hat über 100 000 Kunden. Darunter beispielsweise Frauen, die als Putzkräfte angestellt waren und sich mit dem Darlehen selbständig machen konnten. Die Rückzahlungsquote der Kredite liegt bei 99,5%.

US-Präsident Trump wäre wahrscheinlich kaum erfreut, von Parallelen zwischen Bangladesch und den USA zu hören.
Der Wahlsieg von Trump und seine Drohung, Personen ohne gültige Dokumente auszuweisen, haben uns Sorgen bereitet. Über 60% der Kunden von Grameen America sind Einwanderer ohne Papiere. In jeder Metropole, in der wir präsent sind, haben sich die Bürgermeister jedoch für unsere Sache starkgemacht. Mit Erfolg: Bislang wurde niemand ausgewiesen.

Sie sind der Ansicht, dass in jedem Menschen ein Unternehmer steckt. Ist das nicht überoptimistisch? Wie könnte der unternehmerische Geist in einem Land wie der Schweiz angestossen werden, wo die Start-up-Mentalität weniger stark ausgeprägt ist?
Egal, ob in der Familie oder in der Schule: Bereits Kindern muss beigebracht werden, dass es zwei Karriereoptionen gibt – dass du nicht nur Arbeitnehmer, sondern eben auch Unternehmer werden kannst. Auch der Lehrplan der Schulen sollte entsprechend angepasst werden und Themen wie «Wie gründet man ein Business» abdecken. Mit mehr Unternehmertum wäre auch Familien geholfen, liessen sich doch Arbeit und Kinderbetreuung besser unter einen Hut bringen.


 

Investieren mit doppelter Wirkung

Über die letzten Jahre hat der Begriff Impact Investing einen wahren Boom erfahren – und das, obwohl (oder gerade weil) eine einheitliche Definition fehlt. In der Regel werden darunter Anlagen verstanden, die nicht nur eine finanzielle Rendite abwerfen, sondern einen konkreten Zusatznutzen stiften – etwa in sozialen oder ökologischen Belangen.

Gerade institutionelle Investoren wie Pensionskassen oder Versicherungen setzen in ihrer Asset Allocation vermehrt auf Impact Investing. Doch auch Privatpersonen eröffnen sich immer mehr Möglichkeiten. Grundsätzlich gilt es dabei zu berücksichtigen: Je konventioneller das Anlageinstrument, desto grösser sind die Transparenz und die Liquidität. Dies geht aber oft zulasten des erzielbaren Zusatznutzens.

Inzwischen werden immer mehr traditionelle Aktien- und Bondvehikel mit dem Etikett «Impact» versehen. Fondsmanager versuchen hierbei, Unternehmen zu identifizieren, deren Produkte und Dienstleistungen eine positive Wirkung entfalten. Die Selektion findet meist anhand der ESG-Kriterien statt – eine Abkürzung, die für die Sphären Umwelt (Environmental), Soziales (Social) und Konzernführung (Governance) steht. Vielfach ist das Etikett «Impact» aber Augenwischerei und weckt übertriebene Erwartungen: Gerade wenn sich der Fonds primär aus internationalen Large und Mega Caps zusammensetzt, weicht die Zusammensetzung kaum von üblichen Aktien- oder Bondvehikeln ab.

Wesentlich zielgerichteter agieren Investmentmanager, die ihr Kapital in nicht börsengelistete Gesellschaften (z. B. Mikrofinanzinstitute) oder Infrastrukturprojekte in Schwellenländern anlegen – darunter etwa in Energievorhaben wie Wind- und Solarkraftwerke oder bezahlbaren Wohnraum für untere Einkommensschichten. Zu der Gruppe dieser Investoren gehören unter anderem Schweizer Vermögensverwalter wie responsAbility, BlueOrchard oder Symbiotics. Sie bieten auch Fonds an, an denen man als Privatanleger partizipieren kann.

Das Kapital dieser Vehikel wird meist über Darlehen oder über Eigenkapitalbeteiligungen investiert. Wegen des grösseren Aufwands, den die Identifikation und die laufende Kontrolle (Governance) der Anlagen bedingen, liegen die Verwaltungsgebühren allerdings meist deutlich höher als bei traditionellen Aktien- oder Bondfonds.

Die inkonsistente Abgrenzung macht es schwierig, das genaue Marktvolumen zu beziffern. Laut der Branchenorganisation GIIN waren per Ende 2017 weltweit 228 Mrd. $ über Impact Investments angelegt.

Eine wichtige Rolle spielen hierbei Mikrofinanzunternehmen, die das aufgenommene Kapital über Mikrokredite weiterreichen. Meist bauen solche Institute ihre Services mit Spar- und Vorsorgelösungen aus. So werden – gerade in Schwellenländern – bislang unberücksichtigte Bevölkerungsteile in den Finanzkreislauf einbezogen.

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