Die Erhöhung der Risikoaversion liess die Aktienkurse im März stärker fallen, als es die Revision der Gewinnerwartungen allein erklärt hätte.
Die Covid-19-Pandemie bringt fundamentale Veränderungen mit sich. Noch vor ein paar Monaten konzentrierten sich Investoren, Manager, Politiker und Ökonomen auf traditionelle Geschäftsrisiken oder etwa das dringende Problem des Klimawandels. Doch dann verschob sich die Aufmerksamkeit dramatisch. Die Aktienmärkte fielen im März massiv und prognostizierten so eine düstere Zukunft für viele Unternehmen. Tatsächlich hatten zahlreiche Länder in den Wochen darauf mit negativen realwirtschaftlichen Konsequenzen von Covid-19 zu kämpfen.
Viele Investoren fragen sich nun in Anbetracht der relativ positiven Kursentwicklung von April bis Mitte Mai: Wie kann es sein, dass es der Wirtschaft so schlecht geht, die Gewinnerwartungen der Unternehmen massiv gefallen sind und der Aktienmarkt dennoch steigt?
Diskontierungsfaktor zentral
Eine mögliche rationale Erklärung: Aktienkurse reflektieren Gegenwartswerte, also diskontierte zukünftige Gewinne. Neben dem erwarteten Cashflow spielt folglich die Unsicherheit eine Rolle. Ein einfaches Beispiel: Ein nur mit Eigenkapital finanziertes Unternehmen mit Eigenkapitalkosten von 10%, das jedes Jahr einen erwarteten Gewinn von 100 erzielt, ist 1000 wert. Fällt der erwartete Gewinn im ersten und im zweiten Jahr um 30%, also auf 70, ist das Unternehmen noch immer knapp 948 wert – errechnet als Summe des diskontierten Gewinns des ersten Jahres (rund 64) plus Gewinn des zweiten Jahres (rund 58) plus alle diskontierten «ewigen» Gewinne (rund 826). Der grösste Teil des Unternehmenswerts besteht also aus dem erwarteten Gewinn in der ferneren Zukunft. Steigt nun aber die Unsicherheit so, dass die Kapitalkosten 12 statt 10% betragen, sinkt der Unternehmenswert auf rund 783.
Im März verschärfte sich die Risikoaversion markant. Deswegen gaben die Kurse viel stärker nach, als es die gesunkenen Gewinnerwartungen allein erklärt hätten. Im April und im Mai zeichnete sich für manche Länder zwar eine düstere Entwicklung hinsichtlich der Opferzahl ab. Doch die Unsicherheit bezüglich der Pandemie schwand, weshalb – dank des geringeren Diskontierungsfaktors – auch bei gleichbleibenden Gewinneinbussen die Kurse wieder stiegen.
Aus diesen Überlegungen folgt: Eine allfällige zweite (und dritte) Covid-19-Welle könnte zu weiteren Verwerfungen führen, da auch die Unsicherheit wieder wachsen könnte. Deshalb lohnt es sich, zu analysieren, wie der Finanzmarkt die erste Covid-19-Welle verarbeitet hat.
Unsere neueste Forschungsarbeit dokumentiert drei Phasen. Erstens begannen in der Inkubationsphase ab Anfang Januar gut informierte Investoren teilweise einzupreisen, was in den folgenden Wochen und Monaten kommen könnte. Erst in der zweiten Phase, dem Ausbruch (nach dem 20. Januar, als die Weltgesundheitsorganisation ihren ersten Lagebericht veröffentlicht hatte), nahm die breite Aufmerksamkeit der Anleger in Sachen Covid-19 zu. International ausgerichtete Unternehmen – besonders die mit einem starken Chinafokus – begannen zu leiden, weil die Lieferketten immer stärker in den Fokus rückten.
Mit dem ersten grösseren Lockdown in Italien Ende Februar begann die dritte Phase, die Fieberphase. Die Menschen in Europa und den USA erkannten plötzlich, dass das Virus sie direkt betrifft. Panikverkäufe an der Börse gingen Hand in Hand mit Panikkäufen in den Supermärkten. International ausgerichtete US-Aktien erlebten ein relatives Comeback, da sich die Aussichten für China im Vergleich zu den US-Aussichten besserten.
Solide Konzerne im Vorteil
Vor allem aber galt nun «Cash is King»: Unternehmen mit einer starken finanziellen Position profitierten. Interessanterweise setzte sich dieses Muster auch nach den Anleihenkäufen der US-Notenbank fort, zumindest bis Anfang Mai. Dies zeigt sich – nach Berücksichtigung von anderen Firmencharakteristika und der Sensitivität für allgemeine Marktbewegungen – in der divergierenden Performance von US-Unternehmen, die sich gemessen am Cashbestand im höchsten Quartil befinden, und US-Gesellschaften im höchsten Quartil der Ausrichtung auf China in Export und Lieferketten.
Für Investoren bedeuten diese Erkenntnisse: Erstens ist der Fokus auf die Risikomanagementfunktion von Cash sowie die Resilienz von Unternehmen (z. B. die Fähigkeit des Managements) entscheidend. Zweitens wird mittelfristig die internationale Diversifikation wichtiger. Unternehmen stellen vermutlich ihre Lieferketten um. Wenn es dadurch zu weniger Handel zwischen den Ländern kommt, sinkt die Korrelation der internationalen Märkte. Drittens sieht die Wirtschaftslandschaft künftig anders aus als diejenige, an die wir uns gewöhnt haben.
Aus dem Kursanstieg von Telecomunternehmen geht etwa hervor, dass die Nachfrage nach Dienstleistungen zur Unterstützung der Arbeit zu Hause hoch bleiben wird. Solche Veränderungen bringen potenziell soziale und politische Umwälzungen mit sich. Hoffentlich können wir die damit verbundenen Gefahren vermeiden und von den Chancen profitieren.
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