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11:50 Uhr - 14.04.2016

«Finanzbranche würde mit Brexit klarkommen»

Kevin Gardiner, globaler Marktstratege bei Rothschild Wealth Management, sieht Einstiegschancen im Banken-, im Pharma- und im Technologiesektor.

Herr Gardiner, seit Anfang Jahr haben die Aktienmärkte weltweit deutlich verloren. Sehen wir aktuell eine Korrektur, oder befinden wir uns in einem Bärenmarkt?
Ich sehe keinen generellen Abwärtstrend, wenn wir die Märkte über die nächsten zwei bis drei Jahre betrachten. Es wird an den Börsen aber auch nach dem ersten Quartal 2016 volatil weitergehen. Die US-Notenbank wird höchstwahrscheinlich im Sommer weiter die Zinsen erhöhen. In China könnte es zu erneuten Korrekturen kommen, da die Aktienbewertungen dort noch immer sehr hoch sind.

Für Unsicherheit sorgt auch die anhaltende Debatte zum Brexit. Wird Grossbritannien aus der Europäischen Union austreten?
Wie verschiedene Umfragen zeigen, sind Befürworter und Gegner aktuell fast gleichauf. Aber in den Befragungen sind ältere Menschen untervertreten. Obwohl sie in der Regel für den Status quo sind, wollen sie dieses Mal den Austritt. Das heisst, ein solcher Entscheid steht näher bevor, als es die Hochrechnungen vermuten lassen. Persönlich hoffe ich aber, dass Grossbritannien in der EU bleibt, wirtschaftlich wäre es besser.

Was bedeutet der Austritt für Anleger?
Der mögliche Austritt ist für Anleger nicht matchentscheidend. Denn er entscheidet nicht, ob ein Unternehmen weiter wächst oder nicht. Auch ohne die EU wäre Grossbritannien unter den grossen europäischen Volkswirtschaften von einer Stagnation am wenigsten betroffen. Der Handel mit Europa würde ja nicht plötzlich stoppen. Die Schweiz zeigt, wie man als Nichtmitglied erfolgreich Handel mit EU-Staaten betreibt.

Welche Auswirkungen hätte der Brexit auf die Finanzbranche Londons?
Ich denke, die Finanzbranche in London würde mit einem Exit klarkommen, vielleicht mit gewissen Abstrichen. Aber es gibt in Europa kein Finanzzentrum, das London ablösen könnte. Paris und Frankfurt haben die kritische Grösse nicht. Der britische Finanzsektor war schon gross und einflussreich, bevor es die EU gab. Gerade viele US-Banken würden wohl nicht umsiedeln.

Bankaktien sind stark unter Druck geraten. Bieten sie jetzt Einstiegschancen für Anleger?
Für solche, die Risiken tragen können, gibt es gute Möglichkeiten im Finanzbereich. Der Sektor ist aber sehr volatil. Dessen muss man sich als Investor bewusst sein.

Wo genau sehen Sie Potenzial?
Gerade in Europa sind sehr viele schlechte Nachrichten in den Aktienkursen eingepreist. Und in den USA sind die Kapitalpositionen der Banken ausreichend, der Immobilienmarkt ist solide, und die Banken verdienen gutes Geld. Langfristig muss man sich jedoch fragen, was mit gewissen Banken passiert, wenn Zahlungs-Services mit neuen Technologien dezentral organisiert werden.

Haben die Banken diesbezüglich ihre Hausaufgaben gemacht?
Die Profitabilität des Sektors wird trotz Leverage kaum mehr auf das alte Niveau zurückklettern. Langfristig könnten bisherige Businessmodelle mit den neuen Technologien zum Teil obsolet werden. Aber bis dahin sehen wir gute Chancen auf einen weiteren profitablen Zyklus.

Welche weiteren Sektoren finden Sie besonders interessant?
Technologie und Pharma. Gerade der pharmazeutische Sektor hat stark verloren und kann wieder zulegen.

Das heisst, die fundamentalen Daten der Pharmaunternehmen stimmen?
Pharma ist für uns langfristig eine Wachstumsgeschichte. Wenn wir damit richtigliegen, werden sich die grossen Fortschritte in der Forschung und bei neuen Behandlungsansätzen kapitalisieren lassen. Die Innovationskraft in dem Bereich ist ausgesprochen hoch, und für diese Innovation wird auch im sehr marktorientierten und damit teuren US-Gesundheitsmarkt immer bezahlt werden.

Medikamentenpreise bergen aktuell politische Sprengkraft. Gibt es Wachstumsgeschichten mit weniger Risiko?
Aus strategischer Sicht ist der Bereich Technologie sicherlich die unkompliziertere und attraktivere Wachstumsgeschichte. Tech-Titel sind günstiger bewertet als Pharma.

Welche Bereiche im Tech-Sektor sind besonders attraktiv?
Der Sektor ist äusserst breit und bietet viele Möglichkeiten. Die vierte industrielle Revolution ist im Gange, und es ist ungewiss, wer gross rauskommt. Deshalb sollte ein Investmentportfolio breit aufgestellt sein. Denn je enger der Anleger bei der Auswahl von Investments denkt, desto mehr läuft er Gefahr, dass vieles schon in den Aktienkursen einkalkuliert ist.

Wie gehen Sie vor?
Wer auf bestimmte Technologien setzt, kann damit auch falschliegen. Besser ist es, entlang der ganzen Wertschöpfungskette zu investieren. Also (ALSN 64.95 0.54%) nicht nur in die Unternehmen, die Roboter herstellen, sondern auch in solche, die diese Maschinen benutzen und damit effizienter werden, in Softwareanbieter, Datenverarbeiter und so weiter.

Wie sieht es in anderen Sektoren aus?
Im Rohstoffbereich, das heisst bei Öl- und Bergbaukonzernen, sind mittlerweile so viele Negativnachrichten einkalkuliert, das wir auch diese Bereiche wieder in Betracht ziehen sollten. Was die Ölbranche angeht, ist unser Ausblick neutral bis leicht positiv.

Wie attraktiv ist Bargeld?
Wir besitzen aktuell etwas mehr flüssige Mittel als normal. Einerseits aus Investmentgewinnen, andererseits um Volatilität auszunutzen. Mit Cash-Positionen kann man kurzfristig profitieren. Die Korrelation zu anderen Assets ist gleich null.

Obligationen sind gegenwärtig sehr teuer. Was empfehlen Sie?
Das ist richtig. Deshalb haben wir mehr alternative Investments zur Diversifikation unseres Portfolios als Staatsobligationen. Aber: Wir sehen keine Blase.

Die Europäischen Zentralbank (EZB) flutet die Märkte derzeit mit billigem Geld, um eine Deflation zu verhindern. Ist das die richtige Strategie?
Eigentlich sind die Zentralbanken so etwas wie die Leitplanken einer Autobahn, die Mega-Crashs wie 2008 verhindern sollen. Aber sie sind nicht der Motor, der die Fahrzeuge oder die Volkswirtschaften antreibt. Der entscheidende Faktor für mehr Wachstum ist nicht die Zins- oder die Fiskalpolitik. Wachstum hängt davon ab, ob Sie Innovation schaffen und das richtige Personal dafür bekommen. Ich finde, die Zentralbanken sollten einen Schritt zurücktreten, um den Märkten kurzfristig mehr Volatilität zu ermöglichen. Die Idee, jede Schwankung der Wirtschaft oder des Kapitalmarktes zu glätten, ist irreführend.

Wie beurteilen Sie die Inflationsgefahr?
Über die letzten Dekaden sorgte sich die Wirtschaft über zu hohe Inflation, nun über zu wenig. Doch das Wachstum ist da, und die Arbeitslosenquoten kommen langsam zurück. Europäische Aktien sind attraktiv – nicht weil die EZB Anleihen kauft, um den Markt zu stabilisieren, sondern weil die Firmen fundamental betrachtet überzeugen und profitabel sind. Mittelfristige Wachstumsprogosen haben wenig mit der Zinshöhe zu tun.

Gerade in den USA warten viele Anleger auf konkrete Signale, wann die US-Notenbank Fed die Zinsen weiter erhöht. Wann kommt der nächste Schritt?
Das Fed will die Märkte nicht verunsichern. Die Zinserhöhung dürfte im Sommer kommen und dann nochmals in der zweiten Jahreshälfte. Wir werden wohl etwas mehr Normalisierung sehen. Der Wirtschaft würde es gut tun, da Unternehmen wieder bessere Resultate schreiben.

Wie beurteilen Sie die Lage der Unternehmen in der Schweiz ?
Die Bedeutung der Wechselkurse wird oft überschätzt. Die Aufhebung des Mindestkurses zum Euro belastet die Schweizer Wirtschaft, aber die aktuellen Daten zeigen, dass die Schweiz 2016 wohl mit der Wachstumsrate der Eurozone mithalten kann. Das ist keine wirklich gute Leistung, aber angesichts des ökonomischen Umfelds solide. Die Arbeitslosenzahlen sind zwar gestiegen, aber nicht in bedenklichem Ausmass. Die Negativzinsen der Nationalbank belasten die Banken, aber es hätte weit schlimmer kommen können.

Rechnen Sie mit weiteren Verlagerungen ins Ausland?
Die aktuelle Währungssituation drückt bei vielen Schweizer Gesellschaften auf die Margen. Damit werden wohl weitere Unternehmen Produktionsprozesse ins günstigere Ausland verlagern. Aber gerade die zahlreichen Schweizer Produktionszweige der Präzisionstechnik sind weniger preissensitiv. Dort ist der Kostenvorteil im Ausland mittlerweile nicht mehr so gross.

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