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11:20 Uhr - 17.01.2017

«Ohne Bilaterale droht Wachstumsverlust»

Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch zum zunehmenden Druck auf Globalisierung und Freihandel und zu deren Bedeutung für die Schweiz.

Der gewählte US-Präsident Donald Trump hält nicht viel von Freihandel, und das Votum für den Brexit lässt auch auf eine kritische Haltung zu Freihandel und Globalisierung schliessen. Welche Folgen haben diese Tendenzen für die kleine, exportabhängige Schweiz? Im Gespräch mit «Finanz und Wirtschaft» betont Staatssekretärin Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch die grosse Bedeutung von Freihandel und Globalisierung für die Schweiz – und nicht nur für sie.

Frau Staatssekretärin, die Globalisierung und der Freihandel sind in Verruf geraten. Was bringen sie wirklich?
Man darf die zwei Begriffe nicht gleichsetzen. Die Globalisierung wird durch den technischen Fortschritt vorangetrieben, der den internationalen Wirtschaftsverkehr stark erleichtert und der kaum beeinflussbar ist. Das ist kein neues Phänomen, hat sich aber in den letzten Jahrzehnten stark beschleunigt. Im Unterschied dazu stützt sich der Freihandel  auf bewusst geschlossene Abkommen zur Verbesserung des Marktzugangs. Die Globalisierung und der Freihandel haben weltweit sehr viel Wohlstand gebracht. Die offenen und miteinander verknüpften Märkte haben vielen Ländern erlaubt, sich rasch zu entwickeln. In China etwa hat die Globalisierung Hunderte von Millionen Menschen aus der Armut gehoben.

Warum sind Globalisierung und Freihandel derart unter Druck geraten?
Es gibt auch negative Seiten. In vielen Ländern wachsen Ungleichheiten, die teilweise nicht aufgefangen werden. In verschiedenen Ländern geht die Schere eher auseinander. Neben den Gewinnern gibt es zumindest vorübergehend auch Verlierer der Globalisierung. Das hat sich beispielsweise in den USA gezeigt. Die Betroffenen erhalten oft keine Antworten, die ihre Situation verbessern könnten, sie fühlen sich allein gelassen. Das muss auf nationalstaatlicher Ebene geregelt werden. Die Schweiz ist da gut aufgestellt. Wir haben ein gutes Bildungssystem, einen flexiblen Arbeitsmarkt sowie ein dichtes Sozialnetz.

Könnte man über eine Freihandelsoffensive wieder ein besseres Umfeld schaffen?
Wir kommunizieren oft zu abstrakt, zu technisch und zu wenig emotional. Wir führen keine Erfolgsstorys an, sondern operieren nur mit Zahlen. Das kommt bei den Leuten nicht richtig an. Wir müssten die Kommunikation über die Themen Globalisierung und Freihandel verbessern. Und wir müssen ehrlicherweise auch über die damit verbundenen Probleme sprechen. Es braucht eine differenzierte Beurteilung, zumal der Freihandel ohnehin nie grenzenlos sein kann.

In Westeuropa gibt es vergleichsweise wenige Globalisierungsverlierer. Trotzdem zeigen sich auch da starke Widerstände.
In Europa geht es eher um die Angst, dass durch internationale Abkommen Errungenschaften zum Beispiel im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen gefährdet werden, wie etwa im Gesundheitswesen. Aber auch in Europa gibt es Verlierer, allerdings wohl weniger als in anderen Regionen. Hinzu kommt, dass diese Diskussion über soziale Medien geführt wird und so rasch breite Massen auch in Europa mobilisiert werden können.

Sind diese Ängste gerechtfertigt?
Die Angst, dass alles liberalisiert und privatisiert wird, ist nicht gerechtfertigt. Allerdings können Handelsabkommen auch gewisse Regulierungen in den einzelnen Ländern beeinflussen. Sie beschränken sich heute weniger als früher auf Zölle und andere Hindernisse an den Landesgrenzen.  Die Leute befürchten dann, dass nationale Regulierungsmöglichkeiten verloren gehen. Deshalb achtet die Schweiz in ihren Verhandlungen darauf, dass die – für ein Exportland wichtige – Marktöffnung nicht auf Kosten der öffentlichen Interessen geht und die dafür nötigen Regulierungsmöglichkeiten gewahrt bleiben.

Wird durch die Wahl von Donald Trump in den USA in Globalisierung und Freihandel eine Rückwärtsbewegung eingeleitet?
Es ist schwierig abzuschätzen, was wirklich geschehen wird. Herr Trump hat sich eher positiv zu bilateralen Abkommen geäussert. Umfassende Abkommen, an denen mehrere Länder beteiligt sind, scheint er dagegen abzulehnen.

Gehen wir davon aus, dass er das Freihandelsabkommen TTIP, Transatlantic Trade and Investment Partnership, eher nicht will. Dann könnten verschiedene Regierungen in Europa wohl aufatmen. Auch die Schweiz könnte froh sein.
In der Tat käme die Schweiz mit TTIP in eine Zwangslage. Wir hätten mit Diskriminierungen zu rechnen, vor allem für unsere Industrieexporte in die USA. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass TTIP in vielen Bereichen durch neue Handelsregeln auch Chancen bringen würde. Das Abkommen würde den Handel zwischen den beteiligten Ländern beflügeln und hätte so auch positive Effekte, die über die USA und die EU hinausgehen. Es wäre schade und kontraproduktiv, wenn  ein weitblickendes Werk wie TTIP scheitern würde. Aber es trifft zu, dass die Schweiz ohne TTIP direkt und kurzfristig wohl ein Problem weniger hätte.

Würde sich da allenfalls ein Fenster öffnen, um mit den USA wieder über ein bilaterales Freihandelsabkommen zu reden?
Ich habe mir diese Frage auch gestellt, zumal Herr Trump schon mehrmals von Freihandelsabkommen mit befreundeten Ländern gesprochen hat. Wir haben festgestellt, dass in den Vereinigten Staaten ein grosses Interesse an unserer Handelspolitik besteht. Sollte dies auch unter der neuen Administration der Fall sein, müssen wir schauen, was sich daraus ergibt. Allerdings existieren die Schwierigkeiten, beispielsweise in der Landwirtschaft, die vor zehn Jahren die Eröffnung von Verhandlungen über ein Abkommen zwischen der Schweiz und den USA verunmöglichten, nach wie vor.

Mit welchen Ländern wird derzeit über Freihandelsabkommen diskutiert?
Mit Indien, Indonesien, Vietnam, Malaysia und Ecuador. Mit Indien haben wir die Verhandlungen wieder aufgenommen, mit der Zielsetzung, sie im Verlauf dieses Jahres abzuschliessen. Daran ist offenbar auch die Regierung Modi interessiert. Die heikelsten Punkte sind das geistige Eigentum sowie der Datenschutz. Indien ist allerdings ein schwieriger Verhandlungspartner. Aber ich habe ein gutes Gefühl, nicht zuletzt weil die neue indische Verhandlungsdelegation sehr motiviert ist, diese Verhandlungen abzuschliessen.

Wie beurteilen Sie das Verhältnis zum Vereinigten Königreich? Das müssen wir nach dem Brexit neu regeln. Ist ein Beitritt zur Efta ein Thema?
Wenn Grossbritannien beitreten möchte, würde das sicher geprüft. Allerdings scheint das aktuell für das Vereinigte Königreich kein Ziel zu sein. Wir wollen in erster Linie sicherstellen, dass wir im Verhältnis der Schweiz zu Grossbritannien keine Rechtslücke haben und dass wir unsere Beziehungen kontinuierlich fortführen können. Wie wir unser Verhältnis zu London neu regeln, wird davon abhängen, auf welchen Status sich die EU und Grossbritannien einigen.

Kann der Brexit das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU beeinflussen?
Es ist schwer zu sagen, ob die EU eine Verbindung herstellt. Ich gehe eher davon aus, dass sie beide Fälle separat beziehungsweise parallel behandelt. Nach dem Entscheid des Parlaments zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative müssen wir deblockieren, was wegen der offenen Umsetzung blockiert worden ist. Dabei geht es beispielsweise um die Aktualisierung des Abkommens zum Abbau technischer Handelshemmnisse durch die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen.

Die EU hat sich zur Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative noch nicht definitiv geäussert.
Das Echo ist bis jetzt immerhin verhalten positiv.

Dafür dürften wir nun in der Schweiz ein Problem haben, denn die Umsetzung widerspricht klar dem Verfassungsauftrag.
Es ging darum, wie mit den verschiedenen Zielen umzugehen ist, was heikle Fragen aufwirft. Die Lösung berücksichtigt die im Verfassungsartikel genannten gesamtwirtschaftlichen Interessen.

Das Parlament hat zur Umsetzung ein Gesetz verabschiedet, das die Verfassung bricht. Das ist rechtsstaatlich höchst problematisch.
Ich habe zwei Seelen in meiner Brust. Die eine betrifft das bilaterale Verhältnis zur EU. Es ist wichtig und positiv, dass wir es wieder in normale Bahnen lenken können. Als Bürgerin habe ich aber natürlich auch Mühe damit, dass die Verfassungsbestimmung nicht so genau genommen wird. Es stellt sich schon die Frage, wie damit umzugehen ist. Wir haben kein Verfassungsgericht, und ob ein Referendum zustande kommt, ist offen. Ich gehe davon aus, dass es noch einmal eine Abstimmung zum Thema geben wird. Zur Debatte stehen neben einem allfälligen Referendum die Rasa-Initiative, ein Gegenvorschlag oder eine allfällige Kündigungsinitiative.

Hätte der Bundesrat in Sachen Gegenvorschlag zur Rasa-Initiative nicht schon lange aktiv werden sollen?
Dem Bundesrat stellte sich die Frage, ob sich mit der EU eine Lösung in Sachen Personenfreizügigkeit ergibt oder ob die Schweiz eine eigenständige Lösung schafft, wie das jetzt der Fall ist. Das Vorgehen ist deshalb sinnvoll und konsistent.

Es entsteht jedoch der Eindruck, dass sehr viel Zeit verstrichen ist. Man hätte vermeiden können, ein nicht verfassungskonformes Gesetz zu schaffen.
Wir hatten nur drei Jahre Zeit. Nachdem die Europäische Union eine Verhandlung zunächst verweigert hatte, gelang es schliesslich, ins Gespräch zu kommen; das benötigte schon einige Zeit. Dann kam der Entscheid zum Brexit, ab diesem Datum war von der EU nichts mehr zu wollen. Viele andere Möglichkeiten hatten wir nicht.

In einer weiteren Abstimmung geht es um die bilateralen Verträge mit der EU. Was würde es für die Schweiz bedeuten, wenn das Volk davon nichts mehr wissen will?
Es hätte für die wirtschaftliche Entwicklung klar negative Folgen. Von uns in Auftrag gegebene Studien gehen von einem deutlichen Wachstumsverlust aus. Das wäre schmerzhaft.

Das liesse sich über Freihandelsabkommen kaum kompensieren.
Nein, sicher nicht. Die EU ist und bleibt unser mit Abstand wichtigster Handelspartner. Dies lässt sich nicht über Freihandelsabkommen mit anderen Ländern kompensieren.

Was sagen Sie denjenigen Exponenten, die immer wieder behaupten, der Bundesrat müsse einfach viel härter verhandeln?
Wir verhandeln hart und haben immer wieder massgeschneiderte Abkommen realisieren können. Es nützt nichts, mit Drohgebärden aufzutreten. Die EU hat gegenüber einem Drittstaat wie der Schweiz zum Teil beschränkte Handlungsspielräume, die nach dem Brexit-Referendum im Vereinigten Königreich sicher nicht grösser geworden sind. Wir müssen bestimmt auftreten, aber gleichzeitig auch bei den Verhandlungspartnern Verständnis für unsere Probleme wecken. Nur so wird eine Lösung möglich. Wenn wir unsere Position erklären, wird sie auch verstanden. Eine Verhandlung funktioniert nur, wenn der jeweils andere mein Problem versteht und man gemeinsam versucht, eine Lösung zu finden. Wenn man stur auf einer Position verharrt, gibt es kaum eine Lösung.

Zur PersonSeit bald sechs Jahren steht Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch (56) als Direktorin an der Spitze des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) im Rang einer Staatssekretärin. Ineichen-Fleisch hat nach ihrem Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bern und einer ersten Stelle als Junior Consultant bei McKinsey Schweiz ihre ganze berufliche Karriere in Bundesdiensten absolviert.

Nach einer Zusatzausbildung am Insead in Fontainebleau trat sie 1990 als wissenschaftliche Adjunktin ins damalige Bundesamt für Aussenwirtschaft (Bawi) ein. Sie avancierte 1995 zur Sektionschefin der Abteilung WTO im Bawi. Vier Jahre später übernahm sie, im Rang einer Ministerin, die Leitung des Ressorts WTO im Staatssekretariat für Wirtschaft und amtierte ab 2007 als Delegierte des Bundesrats für Handelsverträge und Chefunterhändlerin der Schweiz in den WTO-Verhandlungen.

Ineichen-Fleisch ist eine sehr gewiefte Unterhändlerin. Dabei kommt ihr ihre aussergewöhnliche Sprachbegabung entgegen: Die Staatssekretärin spricht nicht weniger als sieben Sprachen, darunter Russisch und Chinesisch. Wenn sie einmal nicht beruflich unterwegs ist, verbringt Ineichen-Fleisch viel Zeit in den Alpen – sie ist eine begeisterte Bergsteigerin. (PM)

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