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10:07 Uhr - 15.07.2015

«Wer von Biotech-Blase spricht, übertreibt»

Ward Capoen, Senior Biotechnology Analyst von Candriam Investors Group, rechtfertigt im Interview mit «Finanz und Wirtschaft» die hohen Kurse mit dem wissenschaftlichen Fortschritt in der Branche.

Herr Capoen, steht der Biotech-Sektor nach kräftigem Kursaufschwung vor einer grossen Korrektur?
Nein. Die Bewertungen der grossen Biotech-Unternehmen wie zum Beispiel Gilead (GILD 117.36 2.45%) oder Celgene befinden sich nach wie vor auf dem Niveau des Ward Capoen Bild: ZVGGesamtmarktes. Das zeugt für mich nicht von einer Blasenbildung.

Das Kursniveau ist aber deutlich höher als zur Jahrtausendwende. Macht Ihnen das keine Angst?
Klar, die Valoren sind nicht mehr so günstig. Mich stimmt jedoch zuversichtlich, dass die Branche heute deutlich weiter ist. Vor fünfzehn Jahren gab es viel weniger Biotech-Gesellschaften, die schwarze Zahlen schrieben.

Was ist mit den kleinen, bis anhin unprofitablen Unternehmen? Auch ihr Kursniveau erreicht neue Rekordwerte.
Da ist das Risiko einer Rückstufung grösser, das stimmt. Doch auch bei diesen Gesellschaften glaube ich, dass neue wissenschaftliche Ansätze die Chance auf einen Erfolg erhöhen. Heisse Kandidaten aus meiner Sicht sind Incyte oder Biomarin. Das bessere Verständnis für biologische Mechanismen hilft bei der Entwicklung eines Medikaments. Ein Pharmaprojekt lässt sich heute deutlich schneller und mit einer höheren Erfolgschance realisieren. Es findet ein Paradigmenwechsel statt, den wir in vollem Ausmass erst noch sehen werden.

Hand aufs Herz: Was könnte trotzdem eine Korrektur auslösen?
zoomMakroökonomische Schocks werden sich selbstverständlich auch auf Biotech-Werte auswirken, selbst wenn der Sektor eine geringe Korrelation zum Gesamtmarkt aufweist. Aber nochmals: Ich glaube nicht an eine Korrektur, wie wir sie zur Jahrtausendwende gesehen hatten.

Welche grossen Biotech-Gesellschaften stehen derzeit in Ihrer Gunst?
Biogen (BIIB 400.2 2.29%) erachte ich als Titel mit hohem Kurspotenzial. Die Gesellschaft hat einen hoffnungsvollen Wirkstoff gegen Alzheimer in der Pipeline. Auch bei Multipler Sklerose und bei Schlaganfall ist sie am Entwickeln neuer Medikamente. Alle Indikationsgebiete haben einen Markt mit vielen Patienten und einem hohen medizinischen Bedarf.

Was halten Sie von Amgen, der ersten US-Biotech-Gesellschaft, die unter dem Ablauf von Patenten leidet?
Ich würde Amgen (AMGN 159.32 2.29%) nicht abschreiben. Das Unternehmen ist ebenfalls mit der Entwicklung von biotechnologischen Nachahmermedikamenten, also Biosimilars, beschäftigt. Trotz aller Vorbehalte glaube ich, dass solche Präparate ihren Platz im Markt finden werden. Ausserdem ist Amgen gerade bei neuen, hochwirksamen Cholesterinsenkern vorne mit dabei. Beides sind Zukunftsmärkte.

zoomWie beurteilen Sie die Euphorie unter den jungen Biotech-Unternehmen, die den Gang an die Börse wagen?
Viele Gesellschaften nutzen wegen der guten Anlegerstimmung die Gunst der Stunde. Ich denke, dass vor allem europäische Unternehmen noch Nachholbedarf für einen Börsengang haben.

Welche Börsengänge haben Ihnen zuletzt Eindruck gemacht?
Die beiden auf Krebsimmuntherapien spezialisierten US-Gesellschaften Sage und Kite gefallen mir sehr gut.

Immer wieder bereiten Anlegern Diskussionen über die hohen Medikamentenpreise in den USA Sorgen. Sind die Zeiten der lockeren Preiserhöhungen vorbei?
Das lässt sich nicht generell sagen. Pharmakonzerne, die auf Therapiegebiete fokussieren, in denen viel Wettbewerb herrscht und die Innovation gering ist, werden es schwer haben. Auf Präparate mit einem hohen medizinischen Nutzen werden die Versicherungen und die Staaten aber nach wie vor wenig Druck ausüben können.

Aber selbst Gilead hat die Verhandlungsmacht der US-Einkaufsorganisation Express Scripts beim Hepatitis-C-Medikament Sovaldi gespürt.
Klar, Gilead muss bei Sovaldi mittlerweile Rabatt gewähren. Dafür hat Express Scripts (ESRX 91.36 0.3%) aber auch Volumenrestriktionen, die zulasten des Unternehmens waren, aufgehoben. Es ist eine Win-Win-Situation. Kostenträger werden nie zulasten der Patienten agieren können. Ausserdem werden mit einer Reihe neuer Biosimilars gegen Autoimmunkrankheiten die Budgets entlastet.

Dann glauben Sie nicht an einen Umsatzeinbruch bei AbbVie mit ihrem Mega-Blockbuster Humira?
Wie sich Biosimilars auf den Markt auswirken, ist schwer vorherzusehen. Es stellen sich andere Risiken als bei herkömmlichen Generika. Biosimilars sind nicht identisch mit den Originalpräparaten. Folglich können auch die Nebenwirkungen variieren. Gerade bei Humira bin ich mir nicht sicher, ob Patienten, die mit dem Medikament glücklich sind, auf ein Generikum wechseln werden.

Was ist mit Roche, die bei Herceptin und Rituxan ebenfalls bald Konkurrenz durch Biosimilars erfahren wird?
Bei neuen Patienten ist denkbar, dass Biosimilars zum Einsatz kommen. Bei bereits behandelten Patienten werden Ärzte aber nicht einfach die Therapie umstellen. Ich denke, dass die Biosimilars-Welle langsam anrollen wird. Klarheit werden wir erst in fünf bis zehn Jahren haben.

Wie beurteilen Sie die Pipeline von Roche?
Ich attestiere Roche (ROG 278.1 0.04%) (RO 267.5 0.19%) vor allem Chancen bei Krebsimmuntherapien. Da kann sich der Konzern nun beweisen.

In der Pharmabranche vergeht fast keine Woche ohne Übernahmen. Warum dieser Appetit, dieser Drang nach externem Wachstum?
Grosse Pharmakonzerne haben die Entwicklung wirklich innovativer neuer Medikamente vernachlässigt. Das versuchen sie jetzt mit Übernahmen zu korrigieren. Hinzu kommt der Fokussierungsaspekt. Je höher die Spezialisierung ist, desto mehr Marktmacht geniessen die Unternehmen und desto effizienter lassen sich die konzernweiten Strukturen nutzen. Die mittelgrossen Gesellschaften wiederum verschaffen sich durch Übernahmen die kritische Grösse.

Kritiker monieren die hohen Akquisitionspreise. Als die auf seltene Krankheiten spezialisierte Alexion für den Branchennachbarn Synageva eine Prämie von 80% bezahlte, sackte ihr Kurs ab.
Der Preis, den Alexion bezahlte, war am oberen Ende der nachvollziehbaren Preisspanne. Synageva hat aber mit dem Medikament Kanuma zur Behandlung von LAL-Mangel eine starke Pipeline. Hinzu kommen Synergien in der Vermarktung. Gerade bei den seltenen Krankheiten sind Grössenvorteile ein wichtiger Aspekt.

Apropos, was halten Sie von der Übernahme von Pharmacyclics durch AbbVie?
Auch für Pharmacyclics wurde mit 21 Mrd. $ ein hoher Preis bezahlt. Aber ich glaube, das Unternehmen ist es wert. Wichtig ist, wie sich das Kernprodukt von Pharmacyclics, Imbruvica gegen Blutkrebs, mit anderen Medikamenten kombinieren lässt. Gelingt das, war der Preis gerechtfertigt.

Wer greift als Nächster zu?
Die auf Hepatitis und HIV spezialisierte Gilead wird derzeit als einer der heissesten potenziellen Käufer gehandelt.

Sollen vorsichtige Investoren angesichts der hohen Bewertungen im Biotech-Sektor noch zukaufen?
Die Finger würde ich von kleinen unprofitablen Unternehmen lassen. Ein Fonds eignet sich hier besser. Bei den grossen Biotech-Konzernen wie Biogen oder Celgene sehe ich aber auch für weniger risikofähige Investoren durchaus weiteres Kurspotenzial.

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