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17:35 Uhr - 14.11.2014

Schlechte Zensuren für Europas Musterschüler

Der Sachverständigenrat kritisiert nicht nur die Umverteilungspolitik in Deutschland, sondern auch die Debatte über eine vermeintliche Investitionslücke.

In Deutschland wird Politikberatung auf oberster Ebene praktiziert. Einmal pro Jahr durchleuchten fünf in den Sachverständigenrat berufene Professoren Lage und Ausblick der deutschen Wirtschaft. Der Regierung wird vorgehalten, wo sie irrt, und vorgeschlagen, was sie besser machen sollte. In ihrem diese Woche vorgestellten, 400 Seiten zählenden Bericht stellen sie Berlin ein mangelhaftes Zeugnis aus: Chancen werden vergeben, langfristige Herausforderungen ignoriert. Deutschland solle in der Eurozone mit gutem Beispiel vorangehen, ermahnen sie Merkels Koalition. Nur tut sie das nicht.

Die grosse Koalition aus Bürgerlichen und Sozialdemokraten hat bisher vor allem Verteilungspolitik betrieben in der Annahme, dass sich das Land in einem lang anhaltenden Aufschwung befindet. So sei mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ein sozialpolitisches Experiment mit unbekanntem Ausgang gestartet worden. Der Rat wirft der Regierung auch vor, die in der Vergangenheit in den sozialen Sicherungssystemen eingeleiteten Reformen zu verwässern: «Mit der abschlagsfreien Rente ab 63 Jahren für langjährig Versicherte wurde die ohnehin systemfremde abschlagsfreie Rente ab 65 Jahren temporär noch einmal ausgeweitet.» Die Rentenausgaben seien zusätzlich durch die Mütterrente bis etwa 2050 stark erhöht worden, ohne dass künftige Regierungen diese einmal gewährten Ansprüche reduzieren könnten.

Solange die Wachstumsperspektiven günstig sind, mag sich manche dieser Massnahmen noch rechnen. Nur hat sich der konjunkturelle Ausblick zuletzt massiv eingetrübt. Im zweiten und dritten Quartal stagnierte das Bruttoinlandprodukt. Der Sachverständigenrat geht davon aus, dass die deutsche Wirtschaft 2015 nur noch 1% zunehmen wird. Zum Vergleich: Die OECD ging in ihrem im Mai verfassten Länderbericht von über 2% Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr aus.

Eine oberflächliche Debatte

Vor allem hapert es an den Investitionen. Das wurde allgemein erkannt. In Wirtschaftskreisen und in den Medien läuft inzwischen eine intensive Debatte. Der Sachverständigenrat begrüsst dies, urteilt jedoch, dass die Diskussion am Thema vorbeigehe. Sie stelle die Symptome in den Vordergrund, statt die Ursachen in den Mittelpunkt zu stellen. Was die Schwäche bei den öffentlichen Investitionen betrifft, werde auf die mangelnden Einnahmen verwiesen und würden Steuer- und Abgabenerhöhungen oder eine Ausweitung der Verschuldung gefordert. Stattdessen, so der Sachverständigenrat, seien die Ausgaben bei Bund, Ländern und Gemeinden sowie die Effizienz des Finanzausgleichs zwischen den Gebietskörperschaften zu hinterfragen.

Für eine «pathologische Schwäche» bei den privaten Investitionen in Deutschland sieht der Rat keine Anhaltspunkte. «Gleichwohl suggerieren die in der Öffentlichkeit prominent diskutierten ‹Investitionslücken› eine vermeintlich einfache Therapie: Wer diese Lücke schliesst, hat sämtliche Probleme gelöst», ist im Bericht zu lesen. Stattdessen sei zu untersuchen, wie die Rahmenbedingungen für Investitionen und Innovationen verbessert werden könnten, um künftig für ein kräftiges Wachstum zu sorgen.

zoomGemäss Sachverständigenrat existiert in Deutschland keine Investitionslücke. Dass das Investitionsvolumen weniger wachse, sei dem Bausektor zuzuschreiben. Die Ausrüstungsinvestitionen hätten sich stabil entwickelt.

Der Rat fordert, Beschäftigungshürden  seien abzubauen, und denkt dabei an den Mindestlohn. Die sozialen Sicherungssysteme seien mit einer «demografiefesten Finanzierungsstruktur» zu versehen, beispielsweise über eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Und drittens müsse die   Energiewende, also der angestrebte vollständige Umbau des Systems der Energieversorgung, effizienter gestaltet werden. So sei das Erneuerbare-Energie-Gesetz (EEG) grundlegend zu reformieren.

Bofinger kritisiert die Kritik

zoomUnumstritten ist die Position nicht. Nicht einmal innerhalb des Gremiums. Einer der fünf, Peter Bofinger, widerspricht seinen Kollegen. Der Mindestlohn sei kein Experiment mit ungewissem Ausgang, sondern werde international vielerorts praktiziert. Im Friseurhandwerk und in der Fleischindustrie sei dank ihm die Arbeitslosenzahl gesunken. Seine Höhe entspreche 58% des Medianlohns (inkl. Sozialbeiträgen). Damit entspreche er dem OECD-Durchschnitt.

Auch die Kritik am EEG und an der Energiewende teilt Bofinger nicht. Ebenso wenig die Behauptung, dass es durch die Einkommensumverteilung zu negativen Wachstumseffekten kommen müsse. Neue Studien ergäben das Gegenteil: Geringe Nettoungleichheit sei mit robusterem Wirtschaftswachstum verbunden.

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