Ökonomen, Politiker und Spitzenbeamte in Deutschland beunruhigt der Vertrauensverlust in der Bevölkerung. Eine neue Plattform will Abhilfe schaffen.
Am Ende sitzt sogar der Finanzstaatssekretär der deutschen Bundesregierung in der ersten Reihe. Wolfgang Schmidt hört genau zu, was sein Chefökonom auf dem Podium zu erzählen hat. Ist Deutschland bereit für ein neues wirtschaftliches Leitmotiv? Darüber streitet Jakob von Weizsäcker mit anderen deutschen Ökonomen an diesem winterkalten Donnerstag in Berlin, wo die Diskutanten aus noblen Räumen direkt auf das Brandenburger Tor blicken.
Während sich die Hauptstadt auf das Ost-West-Fussballderby am Wochenende vorbereitet und eine Woche später auf die Feierlichkeiten zu 30 Jahren Mauerfall, geht es hier drinnen auch um so etwas wie einen Epochenbruch: Darum, ob das Modell der sozialen Marktwirtschaft tatsächlich ausgedient hat, oder ob es vielleicht nur repariert werden muss und kann.
Alles kommt auf den Prüfstand: Werden wirklich alle vermögender, wenn Volkswirtschaften Jahr für Jahr wachsen? Etwas, woran so viele in den westlichen Gesellschaften so lange geglaubt haben – bis die Finanzkrise vor gut zehn Jahren alles ins Wanken gebracht hat und auch Ökonomen gemerkt haben, dass dies nicht so ganz stimmen kann. Oder wenn sie sich fragen müssen: Wieviel und welches Wachstum überhaupt noch möglich ist, ohne den Planeten zu zerstören.
Neue Plattform gründet sich
Es nennt sich «Forum New Economy», was sich in Berlin an diesem Tag gründet. Und es kann als Sinnbild dafür dienen, was viele Ökonomen, Politiker und Ministeriumsbeamte dieser Tage umtreibt. Sie wollen endlich eine Antwort finden auf das, was draussen in der Gesellschaft passiert: Eine rebellierende Jugend auf den Strassen verliert den Glauben an die Eliten, die den Klimawandel nicht stoppen können. Überall in der westlichen Welt folgen die Leute populistischen Bewegungen, weil sie Vertrauen in Politik, Medien und Institutionen verloren haben.
Das Forum versteht sich als Netzwerk und Plattform, das Wissenschaftler und Politiker zusammenbringt. Dabei gibt es Studien in Auftrag, kooperiert mit anderen Forschungsinstituten und bietet eine eigene Webseite als Wissensbasis an. Geleitet wird das Forum durch die Einsicht, dass bisherige – vor allem markzentrierte Leitbilder – nicht mehr ausreichen, um den Kampf gegen den Klimawandel, das Auseinanderdriften der Einkommen und Vermögen sowie die Krisenanfälligkeit der Finanzmärkte zu bewältigen.
«Es mangelt vielmehr an einem neuen wirtschaftlichen Paradigma, das Orientierung bietet», schreiben die beiden Forumsdirektoren Thomas Fricke und Simon Tilford. Es gehe ihm gerade nicht darum, alte Feindbilder und über Jahre gepflegte Streitigkeiten zu kultivieren, sagt Fricke. So etwas wie die Debatten zwischen Angebots- und Nachfragetheoretikern möchte der ehemalige Journalist und Chefökonom der European Climate Foundation unbedingt vermeiden.
Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum erklärt, warum er als wissenschaftlicher Partner dabei ist: «Eine typisch akademische Konferenz hört im Prinzip da auf, wo die spannenden Fragen anfangen. Ich kann akkurat beschreiben, wie die Globalisierung auf lokalen Arbeitsmärkten zu Strukturbrüchen und Schocks geführt hat, aber was folgt daraus?»
Das Forum versteht sich auch als Teil einer internationalen Ökonomengemeinde, die seit Jahren ihre Lehren aus der Finanzkrise ziehen will. Als akademische Partner hat es nicht nur linksgerichtete Volkswirte gewonnen, denen Gerechtigkeitsfragen ohnehin am Herzen liegen. So gehört auch Nobelpreisträger Michael Spence dazu, genau wie Harvard-Professor Dani Rodrik, Barry Eichengreen von der University of California oder Martin Hellwig, der weltweit zur Topriege deutscher Ökonomen zählt.
Die Richtungen für einen Paradigmenwechsel skizziert auf der Eröffnungsveranstaltung Michael Jacobs von der University of Sheffield. Er erinnert daran, wie sich das politökonomische Leitbild in westlichen Marktwirtschaften nach grossen Krisen oder Politikversagen immer wieder verändert habe: Nach der Weltwirtschaftskrise der Dreissigerjahre lösten keynesianische Vorstellungen den alten Laissez-faire-Kapitalismus ab. Mit der Stagflationskrise (hohe Inflation bei wenig Wachstum) Mitte der Siebzigerjahre kam das auf, was sehr grob oft als «neoliberales Zeitalter» bezeichnet wird: Die starke Fokussierung der Wirtschaftspolitik auf Privatisierung, Deregulierung der Produkt- und Arbeitsmärkte sowie Liberalisierung der globalen Kapitalströme.
Empirische Belege
Wo es mit dem neuen Wirtschaftsparadigma hingehen soll, halten die Gründer bewusst offen. Wichtig scheint ihnen nur, was sich in der Volkswirtslehre ohnehin schon seit Jahren abzeichnet: Möglichst ohne ideologische Scheuklappen sollen Erkenntnisse gewonnen werden, die zudem immer auch empirisch belegt sind.
Als Beispiel präsentiert das Forum die Forschung der Berliner Ökonomin Charlotte Bartels, die nachweist, wie die Ungleichheit in Deutschland gestiegen ist. Die Arbeiten von Thiemo Fetzer (University of Warwick) und Robert Gold (Gold 1509.64 -0.32%) (Institut für Weltwirtschaft in Kiel) zeigen, dass der Populismus vor allem ökonomische Ursachen hat und oft in Regionen aufblüht, wo die Globalisierung negative Folgen hat und die nach der Finanzkrise zusätzlich von Austeritätsschocks durch sinkende Staatsausgaben getroffen worden sind.
Die Initiatoren des Forums präsentieren ihrerseits eine alarmierende Umfrage, die sie in Auftrag gegeben haben: Sie zeigt, dass 80% der Deutschen ein zunehmendes Risiko erwarten, sozial abzusteigen. Konkret glauben zum Beispiel 57% der Deutschen nicht mehr an die soziale Marktwirtschaft, und 78% sagen, dass in den vergangenen Jahren zu viel privatisiert wurde. Immerhin sagen noch 51%, dass die Globalisierung mehr Vorteile als Nachteile gebracht habe. Diese Ergebnisse stecken die Leitplanken für ein mögliches neues Paradigma der Wirtschaft wohl ganz gut ab.
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