Source-Chefökonom Paul Jackson sieht den Schweizer Leitindex in zwölf Monaten 15% höher. Auch zwei andere Regionen gehören zu seinen Favoriten.
Herr Jackson, die Börsen haben sich nach dem turbulenten Jahresstart etwas gefangen. Was dürfen Anleger dieses Jahr noch erwarten?
Paul JacksonDas Schlimmste haben wir hinter uns. Für europäische und japanische Aktien erachte ich 10 resp. 20% Kursgewinn auf zwölf Monate hinaus als realistisch. Auch Schwellenländer sind nicht ausgereizt. Zurückhaltend bin ich für die USA. Der S&P 500 ist derzeit etwa dort, wo ich ihn nächstes Jahr sehe. US-Titel sind noch immer hoch bewertet.
Und Schweizer Aktien?
Hier sehe ich ebenfalls noch erhebliches Potenzial nach oben. In einem Jahr erwarte ich den Swiss Market Index 15% höher, also in der Nähe des Allzeithochs.
Weshalb?
Die Bewertung ist attraktiver als beispielsweise in den USA. Wir werden keine Rally sehen, aber eine schrittweise Höherbewertung der Aktien. Der Markt erklimmt derzeit eine «Mauer der Sorgen». Anleger sind skeptisch, die Kurse steigen dennoch. Das ist aus meiner Sicht eine der gesündesten Aufwärtsbewegungen überhaupt.
Wo sonst erkennen Sie Aussichten auf eine gute Rendite?
Interessant sind amerikanische High-Yield-Obligationen und Anleihen aus Schwellenländern. Ich ziehe Festverzinsliche den Aktien in den Ländern vor, die sich in einer Rezession befinden. Aus Bewertungsgründen sind in einzelnen Ländern aber auch Aktien interessant.
Wo?
Zum Beispiel in China. Dort sehe ich das Problem, dass manche Anleger nach den massiven Abwärtsbewegungen keine chinesischen Aktien mehr kaufen wollen. Sie sind gezeichnet von den Verlusten. Aber wie lief es in anderen Schwellenländern ab? Russische Obligationen waren 2015 das Thema. Keine anderen performten damals so gut. In diesem Jahr waren brasilianische Obligationen der Renner an den Finanzmärkten. Man muss dann einsteigen, wenn alle anderen ausgestiegen sind.
Wo sehen Sie weitere Contrarian-Chancen?
Ganz klar im Bankensektor, besonders in den USA. Vor zehn Jahren stürzten sich die Anleger auf Bankaktien, als sie noch mit einem Kurs-Buch-Verhältnis von 3 gehandelt wurden. Heute hat es sich auf 0,3 gezehntelt, und niemand will sie mehr. Dabei sind heute die Risiken von Banken deutlich bekannter als früher. Viele Banken haben ihr Geschäftsmodell angepasst, und die Regulierung ist deutlich verschärft worden.
Ihre Empfehlung für Anleger, die auf Sicherheit bedacht sind?
Aktien von Telekommunikationsunternehmen – und zwar solche aus den USA und Europa. Unsere Modelle zeigen, dass die Titel derzeit deutlich günstiger bewertet sind, als sie es eigentlich verdienen. Deshalb sehe ich in Telcos mittelfristig ein erhebliches Aufwärtspotenzial. Dazu kommt: Der Sektor könnte jedes Jahr die Dividenden reduzieren, und doch würde eine nicht zu unterschätzende Performance resultieren.
Eine gute Alternative zu Pharma?
Ja. Pharmatitel gehören bei allen zu den Favoriten, und sie erzielten in der Vergangenheit eine überdurchschnittliche Performance. Obwohl der Sektor in den letzten Monaten unter Druck stand, ist er noch immer hoch bewertet. Aktien von Telekommunikationsunternehmen sind zwar langweilig, aber aus Bewertungsgründen interessant.
Zunächst steht uns aber ein heisser Juni bevor: erst der Fed-Zinsentscheid, dann die Brexit-Abstimmung.
Es wird zumindest im Vorfeld heiss gekocht – für meinen Geschmack etwas zu heiss. Vor allem, was den möglichen Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union betrifft.
Zuerst zum Fed: Wird die US-Notenbank am 15. Juni den nächsten Zinsschritt machen?
Die zuletzt gesehenen Daten sind positiv. Ich weiss nicht, ob die Zinserhöhung schon in diesem Monat kommen wird. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass das Fed die Zinsen 2016 noch zwei Mal nach oben setzen wird, entweder jetzt im Juni oder im Juli sowie im Dezember.
Was die Börsen wieder bremsen dürfte?
Kurzfristig ja. Die Antizipierung eines Zinsschritts dämpft jegliche Euphorie. Dies bremst die Aufwärtsbewegung. Auch wenn wir wissen, dass höhere Zinsen nicht wirklich ein Problem für Aktienmärkte sind, muss der Markt solche Schritte erst einmal verdauen.
Sind die Zinsschritte eingepreist?
Fragezeichen mache ich beim Obligationenmarkt. Er hat höchstens noch eine Zinserhöhung eingepreist, aber nicht zwei. Kommen wie erwartet zwei Zinsschritte, würde dies die Kurse der Obligationen drücken und die Renditen nach oben ziehen.
Und bei den Aktien?
Dort erwarte ich kurzfristig grössere Kursschwankungen. Mittelfristig würde sich die Zinsentwicklung aber positiv auswirken. Immer vorausgesetzt, dass die Notenbank überzeugend darstellen kann, dass erst die erstarkte Wirtschaftslage die Zinserhöhung möglich gemacht hat.
Gespannt warten Börsen und Anleger auch auf die Brexit-Abstimmung am 23. Juni. Bislang ist aber kaum Nervosität zu spüren.
Das überrascht mich. Denn gleichzeitig geben die Meinungsumfragen keine klare Richtung vor. Die vorerst einzige Reaktion war der Kurssturz des britischen Pfunds im Februar, aber weder Aktien noch Gilts haben aussergewöhnliche Kursveränderungen gezeigt.
Was spricht aus ökonomischer Sicht für den Austritt?
Die Chance, flexibler agieren zu können. Weshalb soll man sich an eine stagnierende oder nur leicht wachsende Wirtschaft binden, wenn in den Schwellenländern die Post abgeht? Andererseits bieten die Handelsabkommen der Europäischen Union oft einen erleichterten Zugang. Es gibt keine eindeutigen Argumente.
Für den Fall des Brexit werden grössere Verwerfungen an den Finanzmärkten erwartet. Einverstanden?
Märkte mögen keine Unsicherheit, es würde zu kurzfristigen Kursverlusten bei Aktien und Bonds kommen. Das Pfund kann sich nochmals bis zu 15% abwerten.
Und längerfristig?
Da sind die Folgen deutlich unklarer. Ich bin deshalb etwas überrascht, wie pessimistisch sich Experten jüngst zu diesem Szenario geäussert haben. Die Bank of England oder sogar der Internationale Währungsfonds haben eine Art Panikstatement verfasst. Die entscheidende Frage ist, welche Kraft dominiert. Ist es die Unsicherheit, die auf den Aktienkursen lastet, oder kommt die geschwächte Währung den Exportunternehmen entgegen? Gesichert scheint nur zu sein, dass die Volatilität deutlich zunehmen wird.
Was wäre das Worst-Case-Szenario?
Wenn das Ja der Abstimmung sehr knapp ausfällt, zum Beispiel 45 zu 55%. Dann könnte aus dem Referendum ein Neverendum werden. Die Meinungsumfragen deuten auf ein solches Szenario hin, nur die Buchmacher gehen von einem klaren Ja zum Verbleib in der Europäischen Union aus.
Nach der Gefahr des Grexit nun die des Brexit. Was ist schlimmer?
Ganz klar der Austritt Grossbritanniens. Griechenland ist in Bezug auf seine wirtschaftliche Grösse zu unbedeutend. Im Fall Griechenland ging es ausschliesslich um die Stabilität des Euros. Ihn galt es um jeden Preis zu retten.
Erst kürzlich hat Griechenland neue Milliardenhilfen erhalten. Wie geht es weiter?
Das Problem wird so nicht gelöst. Griechenland hat einen Schuldenhaufen, den es vielleicht nie zurückzahlen kann.
Was heisst das für die Europäische Union?
Sie muss die Idee der Fiskalunion umsetzen. Seit 2012 wird darüber gesprochen. Damals war die Lage an den Finanzmärkten kritisch, die Fiskalunion wurde als ultimative Lösung gesehen. Inzwischen ist die Diskussion versandet. Dabei ist die Fiskalunion ein grosser und unabdingbarer Schritt. Nur so lässt sich der Euro längerfristig sichern. Ich befürchte, dass es eine erneute kritische Situation an den Finanzmärkten braucht, damit die Gespräche wieder aufgenommen werden. So lange bleibt die Eurozone zerbrechlich.
Zerbrechlich? Europa hat sich zuletzt doch deutlich robuster gezeigt.
Vordergründig ja. Die Eurozone hat sich stabilisiert, weil Deutschland in Sachen Wirtschaftswachstum nicht mehr alle dominiert. Andere konnten aufschliessen, zum Beispiel Spanien. Auch Irland hat sich von seinen Krisenjahren erholt. Die hintergründigen Probleme holen Europa spätestens dann ein, wenn die nächste Rezession kommt.
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