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10:38 Uhr - 12.09.2014

«Ich schaue immer, wo der Notausgang ist»

Art Cashin, Handelschef von UBS an der New York Stock Exchange, traut den Rekorden an der Börse nicht recht und warnt im Interview mit FuW vor einer Krise wie im Herbst 1962 um Kuba.

Vom Attentat auf Präsident Kennedy über den Börsencrash von 1987 und den Fall der Berliner Mauer bis hin zum Platzen der Internetblase, zu den Terroranschlägen vom 11. September und dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers: Art Cashin hat alle grossen Weltereignisse der vergangenen gut fünfzig Jahre auf dem Parkett der New York Stock Exchange miterlebt. Der Wallstreet-Veteran, der in Diensten von UBS (UBSN 16.35 -0.24%) das Geschehen auf dem Trading Floor überwacht, richtet derzeit einen aufmerksamen Blick auf die geopolitischen Spannungen. Im Konflikt um die Ukraine sieht er dabei beunruhigende Parallelen zur Kubakrise. «Die Märkte sind gereizt und nervös», sagt Cashin und blickt während des Gesprächs immer wieder aufs Kurstableau. Der kräftigen Hausse der letzten Jahre begegnet er mit etwas Skepsis und macht als Haupttreiber für die Kursavancen die ultralockere Politik der Zentralbanken aus.

Zur PersonKaum jemand geniesst an Wallstreet so grossen Respekt wie Art Cashin. Als er 1959 seine Karriere an der New York Stock Exchange (NYSE) begann, notierte der Dow Jones noch unter 700. Um seine Familie zu unterstützen, verzichtete er damals auf ein Studium und heuerte beim Broker Thomson McKinnon an. Nur fünf Jahre später wurde er zum vollwertigen Partner von P. R. Herzig & Co. ernannt und erhielt mit 23 als einer der jüngsten Trader einen Sitz an der Börse. 1980 stiess er zum Investmenthaus PaineWebber, das 2000 von UBS übernommen wurde. Als Director of Floor Operations leitet er heute den Parketthandel für die Schweizer Bank und zählt zu den sechs Executive Floor Governors, der höchste Rang an der NYSE. Cashin hat irische Wurzeln, ist in New Jersey aufgewachsen und engagiert sich in diversen Wohltätigkeitsorganisationen. Dazu zählt der Fallen Heroes Fund, der Familien von Polizei- und Feuerwehrleuten unterstützt, die im Dienst gestorben sind. Er ist Ritter des Malteserordens und tritt mehrmals pro Woche auf dem Börsensender CNBC als Experte auf. Sein täglicher Marktbericht zählt für viele Investoren zur Pflichtlektüre und liegt auch am Eingang der NYSE auf.Mr. Cashin, seit Anfang Monat haben die amerikanischen Aktienmärkte etwas an Schwung verloren. Zudem ist der September für die Börse oft schwierig. Wie geht es nun weiter mit den Kursen?
Es ist schon merkwürdig, dass der September bis heute ein speziell heikler Monat für Aktien ist. Das hat mit der Zeit zu tun, als Amerika noch von der Agrarwirtschaft geprägt war. Immer im Herbst brauchte es damals Geld, um Weizen (Weizen 0 0%), Mais (Mais 341.006 0%) und andere landwirtschaftliche Güter zu kaufen. Getrieben vom Erntezyklus floss dadurch das Geld aus den Banken in New York ab, sodass es immer wieder zu Liquiditätsengpässen kam. Das berühmteste Beispiel dafür ist die Bankenpanik vom Herbst 1907. Heute spielt der Agrarsektor zwar nur eine untergeordnete Rolle, und das Federal Reserve glättet die Geldflüsse im Finanzsystem. Trotzdem hallt ein Echo aus dieser Zeit nach.

Wie schätzt man denn auf dem Parkett die Lage im September 2014 ein?
Zwei Fragen sorgen momentan für Besorgnis. Erstens: Gelingt es dem Fed, die Geldpolitik einigermassen locker zu halten, ohne dass es zu einem Inflationsschub kommt? Zweitens: Wie geht es mit den Spannungen in der Weltpolitik weiter? Der zweite Punkt scheint bislang zwar nur ein kurzfristiges Thema zu sein. Wenn sich die Probleme mit der Terrororganisation IS oder die Krise in der Ukraine aber auf den Finanzsektor ausweiten, könnten beispielsweise die europäischen Banken erneut unter Stress geraten. Theoretisch könnte es damit sogar zu einer Art «Lehman-Moment» wie im September 2008 während der Finanzkrise kommen.

Wie gehen Börsenhändler mit einer solchen Situation um?
Ich bin nun schon seit über fünfzig Jahren in diesem Geschäft. Oft lassen sich dabei an den Märkten immer wieder ähnliche Muster erkennen. Auch beim Beginn der Kubakrise erwartete zunächst niemand, dass bald die ganze Welt den Atem anhalten würde. Plötzlich sah es aber so aus, als ob wir kurz vor einem Nuklearkrieg stehen könnten. Entsprechend gross war damals die Nervosität hier auf dem Trading Floor. Als der russische Schiffskonvoi, der mit Ersatzmaterial für die Nuklearraketen nach Kuba unterwegs war, dann aber abrupt abdrehte, nahmen wir das mit grosser Erleichterung auf. Es setzte sofort eine kräftige Kursrally ein, die noch über Monate anhielt.

Worauf achten Sie also derzeit, um den Puls der Märkte zu fühlen?
Auf meinem Überwachungsmonitor habe ich eine ganze Reihe von Risikoindikatoren im Auge. Dazu zählt die Rendite auf zehnjährige US-Staatsanleihen, zumal Amerika, geschützt durch die beiden grossen Ozeane, Investoren in Krisensituationen Sicherheit bietet. Ein guter Indikator ist ebenfalls Gold (Gold 1236.07 -0.35%), mit dem sich Anleger gegen Schwankungen an den Devisenmärkten absichern. Speziell im Fall von geopolitischen Risiken beobachten wir zudem den Energiesektor genau, weil er eng mit der Entwicklung in Russland und im Nahen Osten verknüpft ist.

Und was sehen Sie auf dem Monitor?
Im Moment könnte man fast meinen, der Weltfrieden würde bald ausbrechen. Vor allem der Ölpreis ist in den letzten Tagen stark gesunken. Das wäre eigentlich ein klares Zeichen dafür, dass die Anspannungen abgenommen haben. Andererseits sind wir Händler aber oft auch empfänglich für Verschwörungstheorien. So fragen sich manche Trader, ob möglicherweise die Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien Druck auf den Ölpreis ausüben, um Russlands Finanzkraft zu schwächen und Putin in die Defensive zu drängen.

In Ihrem täglichen Marktkommentar warnen Sie auch regelmässig vor Sonneneruptionen. Was hat es damit auf sich?
In unserem Geschäft ist es entscheidend, dass man sich einen Vorteil verschafft oder zumindest einen Rettungsring in Griffnähe hat. Im Lauf der Geschichte haben Börsenhändler deshalb stets nach Zusammenhängen und Wechselwirkungen an den Märkten gesucht. Eine Zeit lang glaubten sie dabei, dass Sonnenflecken einen Einfluss auf den Konjunkturzyklus haben. So zeigen Studien, dass Sonneneruptionen die Ionisierung der Erdatmosphäre verändern können und die Märkte dann jeweils einen oder zwei Monate später gedreht haben.

Von einer Trendwende ist derzeit aber kaum etwas zu sehen. Der Leitindex S&P 500 ist Ende August sogar erstmals über 2000 geklettert und notiert seit Anfang Jahr respektable 8% im Plus.
Das hat vor allem mit den aussergewöhnlich tiefen Zinsen zu tun. Die Gefahr einer Deflation ist nicht gebannt, weshalb Zentralbanken rund um die Welt mit einer ultralockeren Geldpolitik dagegen ankämpfen. Wer in diesem Umfeld eine anständige Rendite erzielen will, hat nur wenige Optionen. Deswegen fliesst Geld in Aktien. Viele Investoren denken sich mit Blick auf das tiefe Zinsniveau und auf die etwas freundlichere Konjunkturlage in den USA, dass der Wert von Aktien weiter steigen wird. Hier auf dem Parkett zweifeln einige von uns jedoch an dieser Argumentation, weil die Preise ja eben von den Notenbanken verzerrt werden.

Ein Härtetest steht bald mit dem Ende des Stimulusprogramms QE3 an. Anders als beim Auslaufen der Vorgängerprogramme QE1 und QE2 nehmen die Aktienmärkte das dieses Mal recht locker.
Das stimmt, der Bondsektor hingegen reagiert ähnlich wie schon beim Stopp von QE1 und QE2. Auch damals tendierten die Renditen auf US-Staatsanleihen schwächer, obschon eigentlich das Gegenteil zu erwarten wäre. Am Aktienmarkt dominiert derzeit die Mentalität, dass man sich immer auf das Fed verlassen kann, wenn es ernst wird. Das war bereits während der Ära von Präsident Alan Greenspan der Fall und hat sich unter seinem Nachfolger Ben Bernanke fortgesetzt. Für die Unabhängigkeit der US-Notenbank ist das jedoch problematisch.

Weshalb?
Das Fed kann gar nicht zulassen, dass etwas wirklich Dramatisches passiert. Wegen des politischen Patts in Washington hat die US-Wirtschaft nach der Finanzkrise kaum Hilfe von der Regierung oder vom Kongress erhalten. Deshalb musste das Fed die Initiative ergreifen und hat mit den QE-Programmen tonnenweise Liquidität in die Märkte gepumpt. Wenn nun etwas schiefläuft, werden die Politiker sofort mit dem Finger auf das Fed zeigen. Es hat daher auch ein Eigeninteresse daran, dass sich die Konjunktur erholt und seine Unabhängigkeit nicht angegriffen wird.

In Washington stehen schon in wenigen Wochen die Parlamentswahlen an. Was könnte das für die Börse bedeuten?
Im zweiten Amtsjahr eines wiedergewählten Präsidenten beginnen die Kurse üblicherweise um diese Zeit zu schwächeln. Seit der Finanzkrise und der Rezession haben sich viele Börsenweisheiten aber als wenig nützlich erwiesen. Die Regel «Sell in May and go away» etwa, die sich in der Vergangenheit oft bewährt hatte, hat dieses und letztes Jahr nicht funktioniert.

Während Ihrer Karriere haben Sie schon diverse Fed-Häuptlinge kommen und gehen sehen. Was hält Wallstreet von der neuen Chefin Janet Yellen?
Für ein Urteil ist es noch zu früh. QE3 ist noch nicht beendet, und Yellen konnte ihre Vorstellungen von der Geldpolitik noch nicht richtig umsetzen. Bisher hat sie auch nicht exakt definiert, mit welchen Ellen sie die Entwicklung am Jobmarkt misst. Klar ist, dass sie wie Bernanke einen starken akademischen Hintergrund hat. Mit dem Fed-Vizepräsidenten Stanley Fischer ist nun zudem eine neue Figur aufgetaucht, auf die ich genau achten werde. Er wird enormen Einfluss haben, was aber nicht heisst, dass er auf Konfrontationskurs mit Yellen gehen wird. Vielmehr wird er ihr dabei helfen, zu verstehen, warum sich gewisse Dinge vielleicht ändern müssen.

Normalisiert sich die Geldpolitik, wird sich der Fokus wieder mehr auf die fundamentalen Unternehmensdaten richten. Wie fit ist Corporate America?
Darum dreht sich momentan eine der Kerndebatten. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die an die Konjunktur und damit an Aktien glauben. Sie lagen bislang goldrichtig und argumentieren, dass die Unternehmensgewinne steigen. Auf der anderen Seite gibt es jedoch die Skeptiker, die mehr Gewicht auf das makroökonomische Gesamtbild legen und der Hausse schon von Beginn weg nicht getraut haben. Sie bemängeln, dass die Aktienbewertungen nur deshalb attraktiv erscheinen, weil viele Unternehmen das billige Geld der Zentralbanken nutzen, um eigene Aktien zu kaufen, und dadurch den Gewinn pro Titel künstlich schönen.

Was meint man denn hier auf dem Trading Floor dazu?
Wir Händler sehen die Dinge meist mit  leichter Skepsis. Das hängt mit dem generell vorsichtigen Naturell eines Traders zusammen. Wir rechnen stets mit Problemen und stellen ständig sicher, dass wir den schnellsten Weg zum Ausstieg kennen. Auch wenn ich zum Beispiel privat in einen Raum gehe, schaue ich immer zuerst, wo der Notausgang ist.

In letzter Zeit ist auch oft die Kritik zu hören, dass die Kursavancen nur auf dünnen Handelsvolumen basieren.
Eine alte Börsenregel lautet, dass sich im Volumen die Rechtmässigkeit der Kurse spiegelt. Auch ein Staatspräsident beispielsweise hat kaum Legitimität, wenn an seiner Wahl nur ein Dutzend Leute teilnimmt. Ebenso wollen Investoren einen breiten Konsens sehen, wenn es um das Kursniveau an der Börse geht. Dass sich das Volumen in den letzten Jahren verringert hat, liegt aber auch an strukturellen Veränderungen. So kann man heute mit Produkten wie Exchange Traded Funds per Knopfdruck alle fünfhundert Aktien im S&P 500 auf einen Streich kaufen, wogegen es früher dafür fünfhundert einzelne Transaktionen brauchte.

Wie hat sich Wallstreet in den letzten Jahren generell verändert?
In unserer Branche findet ein tiefgreifender Wechsel hin zum automatisierten Handel statt. Daran müssen wir uns künftig wohl noch mehr anpassen. Ich für meinen Teil vermisse jedoch die einfachen Dinge aus der Zeit, als sich die Händler hier noch in Massen drängten. Damals konnte ich nur schon dem Geräuschpegel entnehmen, was sich in den Handelsringen abspielte. Dominierten die Käufer, klang das fast wie ein russischer Chor. Herrschte hingegen Abgabedruck, war die Tonlage etwas höher.

Heute entscheiden hingegen zusehends Hochfrequenzhändler mit superschnellen Computern, welche Aktien gekauft oder verkauft werden. Haben Sie da überhaupt noch eine Chance?
Manchmal kann auch ein alter Hund noch neue Tricks lernen und gut mithalten. Die Hochfrequenzhändler mögen zwar schneller sein, dafür sind sie aber nicht zwingend klüger. Wenn eine Verkaufswelle losbricht, sind sie uns auf dem Weg zum Ausgang vielleicht einen Schritt voraus. Wir müssen aber auch an unseren Kunden denken. In diesem Geschäft wird erwartet, dass wir besser als eine Maschine abschätzen können, was zum Beispiel ein abrupter Kursrutsch in General Motors (GM 33.61 0.96%) für Ford (F 8.9 -4.81%) und den Gesamtmarkt bedeutet.

Hochfrequenzhändler spielten auch eine zentrale Rolle beim Flash Crash im Mai 2010, als der Kurs gestandener Grosskonzerne kurzzeitig auf bis zu einen Cent einbrach. Kann so etwas erneut passieren?
Ich bin da natürlich etwas voreingenommen und bevorzuge das Handelssystem, das wir zuvor über viele Jahre hinweg hatten. Anders als an den elektronischen Börsen spielten die Kurse hier auf dem Parkett während des Flash Crash nicht verrückt. Es wurde keine einzige Aktie zu einem Penny gehandelt. Hier hatten Menschen die Kontrolle und sagten sich: «Das ergibt doch keinen Sinn. Am besten, wir bremsen ab und sehen, wie sich die Lage entwickelt.» Deshalb halte ich es für wichtig, dass der gesunde Menschenverstand nicht ausgeschaltet wird und jemand die Märkte im Auge behält. Genauso wie ich auch nicht in ein Flugzeug ohne einen Piloten einsteigen würde.

 

 

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