Zurück zur Übersicht
10:06 Uhr - 11.11.2014

Das Pareto-Optimum

Das Prinzip der modernen Wohlfahrtstheorie gibt der Ökonomie kein Instrument für mehr soziale Gerechtigkeit, sondern ein enges Korsett zur Effizienzsteigerung.

Die Wohlfahrt der Gesellschaft verbessern – es gibt kaum eine Aufgabe, mit der die sonst eher als Anleitung zum Egoismus verstandene Ökonomie ihrer deutschen Bezeichnung  «Volkswirtschaftslehre» gerechter würde.  Und lange fühlte sie sich für den edlen Auftrag nicht nur prädestiniert, sondern auch methodisch gerüstet. In diesem Artikel:
Erklärung des Theorems
Zur Person Vilfredo Pareto
Höhenlinien des Glücks
Edgeworth: Pareto in der Box

Lesen Sie hier weitere berühmte Theoreme:
Das Heckscher-Ohlin-Theorem
Der wicksellsche Prozess
Der Balassa-Samuelson-Effekt
Das Say’sche Theorem
Cobb-Douglas-Produktionsfunktion

Hier finden Sie das vollständige Dossier «Berühmte Theoreme».
Bis Vilfredo Pareto zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts an ihre Fakultätstüren klopfte. Der italienische Ingenieur hatte zwischen der Maximierung des individuellen und des gesellschaftlichen Nutzens eine Kluft entdeckt, mit der er die formalste aller Sozialwissenschaften  vor den eigenen Abgrund führte. Dort ist sie bis heute in einer Mischung aus puristischem Stolz und gesellschaftlicher Scham wie angewurzelt stehen geblieben.

Pareto machte mit seinem Kriterium für die Steigerung des Gesamtwohls ein für alle Mal klar: Mit wissenschaftlichen Methoden ist keine Brücke zwischen dem Nutzen des Einzelnen und dem der Gesellschaft zu schlagen. Das Pareto-Optimum, der Grundstein der modernen Wohlfahrtsökonomie, besagt: Von einer Steigerung der Wohlfahrt kann strikt nur dann gesprochen werden, wenn der Nutzen zumindest eines Individuums erhöht wird, ohne ein anderes schlechterzustellen. Pareto illustrierte die Optimierungsmöglichkeiten für den Fall zweier Akteure mit der jedem Ökonomiestudenten vertrauten Edgeworth-Box.

Erklärung des TheoremsDas Pareto-Optimum ist ein Prinzip der modernen Wohlfahrtsökonomie. Gleichzeitig ist es ein wissenschaftliches Effizienzkriterium für die Steigerung des Nutzens eines Kollektivs: Ohne interpersonellen Nutzenvergleich definiert es den Zustand, in dem kein Mitglied bessergestellt werden kann, ohne ein anderes schlechterzustellen. Umgekehrt ist ein Zustand nicht pareto-optimal (d. h. pareto-inferior oder nicht pareto-effizient), wenn die Wohlfahrt zumindest eines Individuums gesteigert werden kann, ohne die eines anderen zu schmälern. Die abgebildete Edgeworth-Box veranschaulicht die Pareto-Optima zweier Akteure auf der Kontraktkurve, wo sich ihre Indifferenzkurven – Konsumkombinationen mit konstantem Nutzen – berühren. Diese bis heute gebräuchliche Darstellung findet sich aber nirgends bei F. Y. Edgeworth, sondern im «Manuale di Economia Politica» von Vilfredo Pareto.zoom

Pur und stur

Wenn wir einem Milliardär eine seiner Villen wegnehmen und einer Obdachlosen geben, wird dadurch die Wohlfahrt nicht gesteigert? Ist der Nutzenverlust für ihn nicht weit geringer als der zusätzliche Nutzen dieses Hauses für die Obdachlose? Paretos Antwort: Wir wissen es nicht. Was ungerecht scheint – und es je nach ethischem Empfinden ist –, ist nur die Folge von Paretos kompromisslosem Purismus: Wenn wir individuelle Wohlfahrtsverluste und -gewinne bei ihrer Aggregation verrechnen, ordnen wir positiven und negativen Empfindungen willkürlich eine Zahl zu. Damit verliert die Ökonomie ihren Stand als empirische Wissenschaft. Sein Effizienzkriterium markiert die Grenze, jenseits deren nur Werturteile entscheiden, ob eine wirtschaftspolitische Massnahme die soziale Wohlfahrt steigert.

Vilfredo ParetoZur Person »Das Pareto-Optimum ist untrennbar mit Paretos Nutzentheorie verbunden. Die klassischen Ökonomen vor ihm waren davon ausgegangen, dass Ausprägungen von Nutzen nicht nur ordinal, also in der Beziehung von «grösser oder kleiner» zueinander stehen. Der Abstand zwischen ihnen war für sie auch kardinal messbar. In ihrer Theorie konnte errechnet werden, um das Wievielfache der Nutzen eines Gutes den eines anderen übersteigt.

Im «Manuale di Economia Politica» von 1906 entwickelte Pareto die Nutzentheorie, der die moderne Konsumtheorie folgt. Er stellte dem kardinalen Nutzenbegriff die ordinale Ophelimität (griech. ophélimos = nützlich) gegenüber. Diese subjektiv empfundene Wohlfahrt hängt von der Intensität des Bedürfnisses ab und schliesst damit interpersonelle Vergleiche aus. Pareto nutzte das Konzept der Indifferenzkurven von F. Y. Edgeworth, stellte es aber auf den Kopf: Für den irischen Ökonomen muss zuerst der Nutzen der Güter gemessen werden, um die Kurven herzuleiten. Für Pareto waren sie empirisch gewonnene Darstellungen der Präferenzen.

Während Paretos Nutzentheorie interpersonelle Wohlfahrtsverrechnung und damit Umverteilung ausschliesst, wird die bestehende Ungleichverteilung durch ein weiteres Forschungsergebnis Paretos zementiert: Die 1887 im «Cours d’économie politique» erschienene Kurve der Einkommensdistribution legt nahe, dass der Anteil derjenigen, deren Einkommen einen gewissen Wert übersteigt, relativ konstant ist – Einkommensverteilung und damit Ausgangspunkt für die Optimierung (vgl. Textbox unten) können damit als «gegeben» behandelt werden. Pareto überprüfte den in Italien beobachteten Zusammenhang zwar an Daten anderer Länder. Bei seiner apodiktisch anmutenden Erhebung zum «für alle Länder und alle Zeiten» geltenden Gesetz dürfte seine ablehnende Haltung gegenüber dem aufkommenden Sozialismus indes mitgespielt haben. Trotzdem stellt die Pareto-Verteilung bis heute ein Pionierwerk der Ökonometrie dar.

Die falsche Wissenschaft

Die Vollendung einer ordinalen Nutzen- und Konsumtheorie übernahmen J. R. Hicks und R. R. D. Allen in den Dreissigerjahren. Kenneth Arrow generalisierte zwei Jahrzehnte später das Pareto-Prinzip mit dem Theorem über die Unmöglichkeit, das Gemeinwohl formell zu bestimmen.

Die Wohlfahrtsökonomie hat bis heute nicht aus der Edgeworth-Box ausbrechen können. Es gibt kaum eine mit der Frage kollektiven Nutzens oder Handelns befasste Disziplin, die nicht auf Pareto-Effizienz aufbaut: Die Neue Politische Ökonomie (Public Choice) etwa sieht im Staat kein  idealisiertes Übersubjekt, dessen Nutzen mit dem der Gesellschaft zusammenfällt, sondern einen Prozess aus Einzelentscheidungen. Und in der Praxis ist die EU wohl das beste Beispiel für die Berücksichtigung des Pareto-Prinzips im politischen Entscheidungsprozess. Ihr Integrationsprozess ist der Versuch, die hohen Kosten der Einstimmigkeit durch Einführung von Mehrheitsbeschluss in immer mehr Bereichen zu senken – durch die demokratische Regel, mit der eine Mehrheit gegen den Widerstand einer Minderheit das «Allgemeinwohl» durchsetzt.

Für Pareto war die Ökonomie von Anfang an nicht die Wissenschaft zur Lösung ethischer oder sozialer Probleme. zoomDas sollte Aufgabe der Soziologie sein, der er sich nach der Jahrhundertwende zuwandte. Das Pareto-Optimum ist bis heute das, was sein Namensgeber damit schaffen wollte: ein sicherer Rahmen, in dessen Innern die Ökonomie soziale Wissenschaft sein darf, ohne als empirische Wissenschaft erröten zu müssen – das Umgekehrte garantiert es nicht. Dafür gibt es Werturteile.

Höhenlinien des Glücks Die Idee der Indifferenzkurven geht auf den 1881 erschienen Essay «Mathematical Psychics: an Essay on the Application of Mathematics to the Moral Sciences» von F. Y. Edgeworth zurück. Gezeichnet hat sie als erster Vilfredo Pareto 1906 im «Manuale di Economia Politica». Sie funktionieren wie Höhenlinien auf Landkarten – es sind Höhenlinien des Glücks: Sie bezeichnen Güteraufteilungen, mit denen sich ein Konsument gleich zufrieden fühlt, gegeben sein Budget. Dieses beschränkt seine unbegrenzten Bedürfnisse auf ein Maximum des einen oder anderen Gutes bzw. eine Linearkombination dazwischen. Wo diese Budgetgerade eine Indifferenzkurve tangential berührt, stiftet die Güteraufteilung den höchsten erreichbaren Nutzen.

Je weiter weg eine Kurve vom Nullpunkt liegt, desto höher das Nutzenniveau, das sie anzeigt. Bewegt man sich etwa von einem Punkt einer Indifferenzkurve vertikal in Richtung Zunahme der Menge von Gut 1 (die Menge von Gut 2 bleibt gleich), gelangt man zu einem Punkt auf einer höheren Indifferenzkurve. Indifferenzkurven eines Individuums schneiden sich nicht.

Entlang der Kurve bleibt der Nutzen gleich, nur die Substitutionsrate ändert sich: das Tauschverhältnis, das ein Individuum indifferent macht zwischen zwei Güterkombinationen. Der Verlust einer Einheit des einen Gutes wird in diesem Verhältnis mit dem anderen kompensiert. Die Rate hängt davon ab, wo auf der Kurve sich der Konsument befindet. Hat er von einem Gut viel, ist er bereit, mehr davon gegen das andere zu tauschen. Daher sind die Kurven gegen den Nullpunkt hin gekrümmt.
Edgeworth: Pareto in der BoxDie oben abgebildete Edgeworth-Box ist eine bis heute gebräuchliche Illustration des Pareto-Optimums: Die Konsumenten A und B teilen sich die Mengen zweier Güter wie im Punkt C (Nullpunkt von A in der linken unteren Ecke, der von B rechts oben). Hier schneiden sich ihre Indifferenzkurven. Auf dem Weg vom Punkt C auf IB in Richtung von Punkt O bleibt B definitionsgemäss gleichgestellt, während der Nutzen von A steigt: A erhält immer mehr von beiden Gütern, springt auf höhere Indifferenzkurven (nicht alle eingezeichnet) bis auf IA2, die von IB im Punkt O gerade noch berührt wird. Unter der Bedingung, dass der Nutzen von B nicht sinkt, ist IA2 die äusserste und damit höchste für A nur durch Tausch (insbesondere ohne Änderung der ursprünglichen Güteraufteilung) erreichbare Indifferenzkurve: In O ist das Pareto-Optimum erreicht. Da die Substitutionsrate hier für A und B gleich ist, lohnt sich Tausch nicht mehr. Die Menge der Optima, die in Abhängigkeit des Anfangspunkts erreicht werden können, heisst Kontraktkurve.
Vilfredo Pareto
(*15. Juli 1848 in Paris; †19. August 1923 in Céligny)
Vilfredo Federico Pareto wurde 1848 in Paris geboren. Seine Familie gehörte zum genuesischen Adel, der die Republik bis zur Eroberung durch Napoleon regiert hatte. Sein Taufname war Wilfried Fritz, eine Hommage an die deutsche Revolution von 1848/49. Sein Vater, Marchese Raffaele Pareto, gehörte zu den Revolutionären, die Italien vereinen wollten. Er hatte deshalb nach Paris fliehen müssen. Paretos Mutter war die Französin Marie Méténier. Die Familie zog 1858 nach Italien zurück. Nach dem Ingenieursabschluss 1870 am Politecnico di Torino arbeitete Pareto für eine Eisenbahngesellschaft und ein Eisenhüttenwerk. Er heiratete 1889 die Russin Alexandra Bakunin.

1891 schrieb Pareto dem in Lausanne lehrenden Léon Walras, den er damals für seine Theorie des generellen ökonomischen Gleichgewichts bewunderte. Walras war beeindruckt vom Potenzial seines jüngeren Kollegen und holte ihn 1893 als seinen Nachfolger an den Lehrstuhl für Wirtschaft in Lausanne. Die Verallgemeinerung des walrasianischen Systems gehört neben der Begründung der modernen Wohlfahrtsökonomik zu Paretos grössten Leistungen als Ökonom. Ab 1898 wandte sich Pareto der Soziologie zu. Er begründete eine eigene Theorie der Eliten und verfasste eine vielbeachtete Ideologiekritik. Neben Max Weber gilt er als einer der wichtigsten Vertreter einer nichtmarxistische Soziologie.

Pareto war ein ebenso gnadenloser wie glänzender Analytiker, der indes nicht viel Kritik vertragen konnte. Beleidigt fühlte er sich auch von seinem eigenen Land, das ihm nie einen Lehrstuhl angeboten hatte. Den Aufstieg des Faschismus betrachtete er mit Argwohn. 1921 schrieb er einem Freund: «Vielleicht täusche ich mich, aber ich sehe im Faschismus keine bleibende und tief reichende Kraft.» Als der Faschismus 1923 triumphierte, akzeptierte er dennoch einen Sitz im Senat. Womöglich hatte Pareto zehn Monate vor seinem Tod auf einen Neuanfang in der italienischen Politik gehofft.

Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.

Seite empfehlen



Kopieren Sie den Link [ctrl + c] und fügen Sie ihn in ein E-Mail ein [ctrl + v]. Aus Sicherheitsgründen ist kein Versand von E-Mails direkt vom VZ Finanzportal möglich.