Emmanuel Ferry, CIO der Genfer Banque Pâris Bertrand Sturdza, empfiehlt europäische Aktien, um von der letzten Aufwärtsbewegung der Börsen zu profitieren.
Herr Ferry, der Bullenmarkt hat soeben seinen achten Geburtstag gefeiert. Wird es auch einen neunten geben?
Die Hausse ist inzwischen extrem. Sie ist die zweitlängste der Börsengeschichte, übertroffen einzig vom Aufschwung von 1982 bis 2000. Der Bullenmarkt ist also bereits ziemlich alt. Haupttreiber waren die quantitative Lockerung und die expansive Geldpolitik der grossen Notenbanken.
Emmanuel Ferry
Hat sich bereits eine Blase gebildet?
Die heutigen Bewertungen sind tatsächlich ziemlich hoch – aber über alle Anlageklassen hinweg. Ob Aktien, Staats- oder Unternehmensanleihen: Alles ist teuer. Wenn wir heute von einer Blase sprechen, dann handelt es sich um eine allumfassende Blase.
Kann die Hausse trotzdem weitergehen? Und was wären mögliche Treiber?
Lange basierte der Bullenmarkt auf einer unüblich hohen Risikoaversion. Diese Phase war getrieben von den Zentralbanken und ihrer Liquidität, nicht aber durch die Fundamentaldaten. Vor etwas über einem Jahr setzte jedoch eine Verschiebung ein: Anleger wandten sich von sicheren Häfen ab und begannen, wachstumsorientierte Anlagen zu kaufen. Die Fundamentaldaten haben also das Zepter von den Notenbanken übernommen. Deshalb kann die Hausse weitergehen, wenn auch mit anderen Treibern.
Der Bullenmarkt wird also «normaler»?
Genau. Dank der Normalisierung bei der Inflation, den Zinsen und in der Notenbankpolitik befinden wir uns im Übergang in eine Reflationsphase. Damit sind auch die Chancen intakt, dass die Hausse sich fortsetzen kann.
Was bedeutet das konkret für Anleger?
Die Vermögensaufteilung ist derzeit weniger wichtig als etwa der Fokus auf die relative Bewertung innerhalb der einzelnen Anlageklassen. Das heisst, dass die Investoren vergleichsweise günstigen Märkten wie Europa oder Japan gegenüber den USA den Vorzug geben sollten. Bei Obligationen bedeutet das, hochverzinsliche Anleihen in Europa gegenüber solchen aus den USA zu präferieren oder auf eine Verringerung der Zinsdifferenz zwischen den USA und Deutschland zu setzen.
Könnte es nicht auch zu einer heftigeren Korrektur kommen?
Ja – wegen der hohen Bewertungen. Damit hat die Gefahr einer grösseren Korrektur in den nächsten zwei Jahren eindeutig zugenommen.
Wie definieren Sie eine solche Korrektur?
Eine einschneidende Korrektur ist für uns ein Kursrückgang von mindestens 30%. Basierend auf statistischen Auswertungen schätzen wir die Wahrscheinlichkeit eines solchen Einbruchs auf rund 30%.
Was wäre ein möglicher Auslöser?
Aus Erfahrung wissen wir, dass der Auslöser praktisch immer die Zinsen sind. Überschreiten sie eine bestimmte Schwelle, kommt es zu Turbulenzen. Die Kombination hoher Bewertungen bei Aktien und bei Unternehmensanleihen sowie einer global hohen Verschuldung – der Schuldenstand ist heute höher als 2007 – bei steigenden Zinsen wird eine Rezession auslösen. Die Märkte nehmen eine solche Entwicklung mit einem Vorlauf von sechs bis zwölf Monaten vorweg. Und in Rezessionen kommt es üblicherweise zu Börseneinbrüchen von 20 bis 40%.
Ab welchem Zinsniveau wird es gefährlich?
Zinsänderungen wirken erst mit einer gewissen Verzögerung auf die Konjunktur – und heute sind die Zinsen nach wie vor sehr niedrig. Wir wissen, dass auf lange Sicht der kritische Schwellenwert bei den zehnjährigen Zinsen bei rund 5% liegt.
Was heisst das?
Blieben die langfristigen Zinsen in den USA unter 5%, drohte der Konjunktur keine Gefahr, und die Börsen konnten steigende Zinsen wegstecken.
Könnte die Schwelle im heutigen Niedrigzinsumfeld nicht deutlich darunter liegen?
Die 5% sind ein langfristiger Durchschnittswert. Heute erachten wir 3,5% als kritische Marke. Aktuell notieren die Zinsen auf zehnjährigen Staatsanleihen rund 1% darunter. Die Märkte können also mit vier weiteren Schritten des Fed leben, bevor wir uns Sorgen machen müssen. Erst dann wirken die Zinsen wachstumshemmend und könnten zu Stress bei den Unternehmen oder im Finanzsystem führen – oder gar bei einzelnen Staaten.
Vorderhand ist demnach alles in Butter?
Das Ende der Deflation, die weltweit verbesserten Wachstumsaussichten und steigende Zinsen, aber auch die Unternehmensgewinne und das positive Börsenmomentum: Alle Ampeln stehen auf Grün. Die grosse Angst der Anleger ist es nun, diese Phase der Hausse zu verpassen.
Ist das nicht ein Warnsignal?
Natürlich kann man das negativ deuten und gelähmt sein angesichts der hohen Bewertung, der politischen Unsicherheit und möglicher Finanzrisiken. Aber das Hauptrisiko momentan ist, an der letzten Aufwärtsbewegung nicht teilzuhaben.
Dafür empfehlen Sie trotz der politischen Unwägbarkeiten europäische Aktien?
Es stimmt, aktuell ist die Politik ein Gegenwind für Anleger. Das ist ein neueres Phänomen, war die Politik in den Jahren nach 1989 doch ein unterstützender Faktor. Heute müssen wir umdenken. Die politische Unsicherheit spiegelt sich jedoch in der hohen Aktienrisikoprämie. Das Risiko ist unseres Erachtens eingepreist.
Europa ist günstig wegen der Politik?
Exakt. Am Ende läuft alles auf Chancen und Risiken hinaus. Das Risiko ist bekannt – der Markt gibt der Wahl Marine Le Pens eine Chance von 30%. Das ist eine hohe Wahrscheinlichkeit. Wir können beobachten, dass vor allem asiatische und US-Investoren sich zum Beispiel mit Put-Optionen gegen ein solches Szenario absichern wollen. Für uns ist das eine Kaufgelegenheit, die sich nur einmal im Leben bietet.
Können Sie das genauer beziffern?
Gemessen etwa am Kurs-Buchwert-Verhältnis oder am zyklisch adjustierten Kurs-Gewinn-Verhältnis handeln europäische Aktien mit einem Abschlag von 50% gegenüber amerikanischen Valoren. Wir befinden uns also an einem extremen Punkt der relativen Unterbewertung.
Wie schätzen Sie den Schweizer Markt ein?
Im Schweizer Markt findet man überdurchschnittlich viele Qualitätsunternehmen. Wegen ihrer Eigenschaft als sicherer Hafen sind die Bewertungen tendenziell hoch. Wenn Sie aber etwas tiefer schürfen, finden Sie auch hier Opportunitäten.
Wo genau?
Bei den mittelgrossen Unternehmen. Dort ist die Bewertung zwar auch nicht zwingend günstig, aber die Eigenkapitalrenditen sind hoch. Wenn Sie also die grossen Namen meiden, können Sie mit hiesigen Titeln wie Bobst (BOBNN 89.95 2.68%), Logitech (LOGN 30.85 0.16%) oder Sonova (SOON 133.2 -0.22%) den Wachstumszyklus spielen.
Wird mit der Zinsnormalisierung auch der Druck auf den Franken abnehmen?
Absolut. Wenn wir davon ausgehen, dass sich Zinsen und Inflation normalisieren werden, dürfte der Aufwertungsdruck auf den Franken schwinden. Beim Dollar-Franken-Kurs hat sich die Lage bereits weitgehend eingependelt. Mittlerweile ist der Dollar zu einer Hochzinswährung innerhalb der G-10 geworden.
Und beim Euro?
Beim Euro sieht es noch etwas anders aus. Wenn Sie aber über die politische Unsicherheit, die noch bis Ende Jahr anhalten könnte, hinausdenken, dürfte der Druck in der zweiten Jahreshälfte abnehmen und dürften sich die Zinsen normalisieren.
Empfehlen Sie auch Schwellenländer?
Wer günstige Schwellenländermärkte sucht, muss auf Länder setzen, in denen Rohstoffwerte oder Finanztitel einen grossen Anteil haben. Denn auch in den aufstrebenden Volkswirtschaften ist Qualität teuer geworden.
Das spricht für Russland und Südamerika.
Genau. Ab jetzt gilt es, auf Rohstoffproduzenten und nicht mehr auf die Konsumenten zu setzen.
Die Rohstoffrally hält also an?
Ja. Zwar haben sich Rohstoffinvestitionen langfristig kaum bezahlt gemacht. Es kann sich aber lohnen, opportunistisch in die Anlageklasse zu investieren, wenn sie sich in einem zyklischen Aufschwung befindet. Gegenwärtig befinden wir uns am Anfang einer solchen Phase.
Wie passt Gold (Gold 1201.01 0.06%) ins Bild?
Wenn der Dollar oder die Realzinsen – also die Zinsen abzüglich der Inflation – steigen, gerät Gold typischerweise unter Druck. Deshalb ist das aktuelle Umfeld nicht besonders gut. Auch als Inflationsschutz taugt das Metall nur bedingt. Dann nämlich, wenn die Teuerung sehr hoch ist, sprich im Bereich von 5 bis 10%. Für Gold ist es deshalb noch zu früh. Dennoch gehört es in ein diversifiziertes Portfolio.
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