Die Passagiere leiden. Doch Flugausfälle sorgen dafür, dass die verbliebenen Flieger besser ausgelastet sind.
Endlich kaum noch Reisebeschränkungen, endlich ohne Angst in die Ferien fliegen: Zwei Jahre hat sprichwörtlich die ganze Welt auf diesen Augenblick gewartet. Und jetzt das: Flüge werden annulliert, Gepäck kommt nicht an, an den Sicherheitschecks lange Schlangen. Die Airlineindustrie findet auch nach Corona nicht zur Ruhe. Die Erholung dauert noch. «Erst der nächste Sommer wird ein normaler Sommer», sagt Alexander Irving, Analyst für die Branche beim Wertschriftenhaus Bernstein. Und schränkt ein: Wenn Inflation, Rezession, sinkende Konsumlaune die Erholung der Industrie nicht noch weiter belasten.
The sky was the limit: Vor Corona war der Himmel die Grenze für die Luftfahrtbranche. Die Zahl der Personenkilometer ging steil nach oben, bis die Pandemie, verbunden mit der Schliessung von Grenzen rund um den Globus, das Wachstum jäh begrenzte (vgl. Grafik 1). Airlines liessen ihre Flieger am Boden. Die Gesellschaften entliessen massenhaft gut ausgebildete Mitarbeiter. Schlimmer noch ist jetzt zu spüren, dass auch die Dienstleister am Boden den Rotstift ansetzten. Ob beim Sicherheitspersonal oder in der Gepäckabfertigung: Überall fehlt Personal. Hinzu kommt, dass die, die noch arbeiten, sich derzeit wegen Corona krankmelden.
Zu schaffen machen der Industrie derzeit Turbulenzen am Boden. Im Januar noch seien täglich lediglich 15’000 Passagiere über Zürich gereist, erklärte Stephan Widrig, CEO Flughafen Zürich (FHZN 152.80 -1.10%), am Wochenende in einem Interview mit der «SonntagsZeitung». Nun seien es 90’000. «Da ist klar, dass noch nicht alles funktioniert.» Dabei läuft der Betrieb am grössten Flughafen des Landes im Vergleich zu den grossen Umsteigeflughäfen London-Heathrow, Amsterdam oder Frankfurt vergleichsweise störungsfrei.
Doch noch sind auch die Coronareisebschränkungen nicht ausgestanden. Im Juni, so zeigt eine Studie der UBS (UBSG 14.63 -0.03%), gab es auf 69% von 60’000 untersuchten Reiserouten weltweit Reisebeschränkungen, im Vergleich zu 76% im Mai. Die Buchungen haben fast das Vor-Corona-Niveau erreicht: Für den September sehen die UBS-Analysten im Vergleich zum Vorkrisenniveau ein Buchungsminus von nur noch 9%.
Noch besser steht die Branche in puncto Yield Management da: Beim Ertragsmanagement geht es darum, die Flieger zu füllen und den durchschnittlichen Erlös je Sitz zu maximieren. Den Yield für die Branche in den Monaten August bis September sehen die UBS-Experten 27 beziehungsweise 29% besser als vor der Coronakrise.
Jede Flugannullierung bedeute eine stärkere Auslastung der übrig gebliebenen Flieger – und damit einen höheren Ertrag. Denn die aktuellen, in der Presse viel zitierten Probleme der Industrie seien Schwierigkeiten vor allem am Boden, weniger in der Luft, erklärt Johannes Braun, Luftfahrtanalyst der US-Investmentbank Stifel. «Wir rechnen daher mit einer starken Berichtssaison und zuversichtlichen Aussagen zum nächsten Quartal», sagt er. «Das wird die Schätzungen nach oben treiben – und letztlich auch die Kurse.»
Erste Zahlen, die von einigen Spielern der Branche bereits veröffentlicht wurden, geben ihm recht. So hat Lufthansa (LHA 6.06 +3.17%), die viertgrösste Airline der Welt und die grösste in Europa (vgl. Grafik 2), Mitte Monat schon einige Daten geliefert. Demnach hat sich der Konzernumsatz im zweiten Quartal auf 8,5 Mrd. € mehr als verdoppelt. Der adjustierte Betriebsgewinn vor Steuern und Zinsen auf Stufe Ebit soll zwischen 350 und 400 Mio. € zu liegen kommen. Der freie Cashflow stieg von 382 Mio. € im Vorjahr auf nun erwartete 2 Mrd. Mit den freien Mitteln will die Airline ihre Nettoverschuldung senken. Ende März lag sie bei 8,3 Mrd. €.
Die Konzerntochter Swiss habe im Quartal zwar einen positiven Ebit erzielt, hiess es weiter, der Betriebsgewinn des Segments Passagier-Airlines sei insgesamt jedoch weiter negativ gewesen. Der Frachtbereich Lufthansa Cargo habe das Ergebnis getrieben. Der soll Experten zufolge auch Hauptargument für Logistikunternehmer Klaus-Michael Kühne gewesen sein, das Engagement an Lufthansa auf 14,1% aufzustocken.
An der Börse sind die vorläufigen Zahlen gut aufgenommen worden. Seit Anfang Jahr liegen die Lufthansa-Papiere «nur» noch 9% im Minus. Für Anfang August steht die Vorlage der endgültigen Zahlen auf dem Plan.
Ryanair hat Montag dieser Woche bereits den endgültigen Zahlenkranz präsentiert.: Europas grösster Billigflieger hat den Umsatz mehr als versechsfacht auf 2,5 Mrd. €. War im Vorjahr noch ein Verlust von 273 Mio. € angefallen, steht nun ein Quartalsgewinn von 170 Mio. unter dem Strich. Die Flieger hätten 15% mehr Passagiere befördert als im Sommer 2019. Die Aktien notierten dennoch schwächer. Seit Anfang Jahr haben sie ein Fünftel verloren.
Der Favorit vieler Analysten ist derzeit ohnehin ein anderes Unternehmen: die ungarische Billigfluggesellschaft Wizz Air. Sie wurde vor knapp zwanzig Jahren gegründet und ist mittlerweile die Nummer eins in Mittel- und Osteuropa. «Wizz Air arbeitet so effizient wie Ryanair (RYAi 12.70 +0.71%), wächst aber schneller», sagt Bernstein-Analyst Irving. Die Fluggesellschaft ähnele Ryanair vor zehn Jahren. An der Börse haben die in London kotierten Aktien seit Anfang Jahr dennoch 60% nachgegeben. Wizz Air leidet unter dem Ukrainekrieg. In dem Land war sie 2008 als erster Billigflieger angetreten. Am Mittwoch rapportiert die Wizz-Air-Führung Zahlen.
Auch wenn die aktuellen Turbulenzen Chancen bieten: Mittelfristig zeigen sich Beobachter skeptisch, was die Aussichten für die Branche angeht. Die Nachfrageerholung werde nächstes Jahr Geschichte sein, erklärt Stifel-Analyst Braun. Dann belasten die Inflation mit höheren Flugpreisen sowie die deutlich gestiegenen Treibstoffpreise, gegen die sich die Branche dann nicht mehr so gut wie jetzt absichern kann. Analyst Braun: «Das wäre ein toxischer Mix für die Margen.»
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