Die Türkei steht am Scheideweg: Präsident Erdogans Verfassungsreferendum ist kaum im Sinn des Republik-Gründers und grossen Modernisierers Atatürk.
Türkische Touristen zieht es wohl nur aus einem Grund nach Thessaloniki: Dort steht das Geburtshaus Atatürks. 1881 kam Ali Riza oglu Mustafa in Selanik zur Welt, damals eine bedeutende ottomanische Bezirkshauptstadt. Dort hausten unter dem Halbmond sephardische Juden, orthodoxe Griechen, muslimische Türken und bulgarische Slawen beisammen, halbwegs harmonisch.
Seit den Balkankriegen 1912/13 gehört Thessaloniki zu Griechenland. Die Stadt schenkte das Haus 1935 der türkischen Regierung. Es ist nun eine exterritoriale Pilgerstätte.
Der junge Mustafa, der den Zunamen Kemal («Perfektion») von einem Lehrer erhielt, besuchte Kadettenanstalten im osmanischen Mazedonien und in der Hauptstadt Konstantinopel. Seine eher untypische Erscheinung – er war blond und hatte blaue Augen – führte zu Gerüchten, Mustafa Kemal sei slawischer, albanischer oder jüdischer Herkunft, doch nichts dergleichen ist bestätigt.
Selanik war im mürben Reich des Sultans ein Hort reformerisch-aufrührerischer Bewegungen, mit denen sich der junge Offizier Mustafa Kemal verband. Doch bald folgten Jahre an der Front: Im italienisch-türkischen Krieg diente er in Libyen, im darauf folgenden Balkankrieg in Thrakien. Seinen Ruhm begründete Mustafa Kemal, nun «Pascha» (ein hoher Titel), mit dem Sieg bei Gallipoli 1915. Prominentestes «Opfer» war der britische Marineminister Winston Churchill, der nach dem blutigen Debakel stürzte.
Nach der Niederlage der Mittelmächte, an deren Seite das Osmanische Reich in den Weltkrieg eingetreten war, unterzeichnete der Sultan ein schmähliches Friedensdiktat der Entente. Darauf brach der türkische Unabhängigkeitskrieg aus. Mustafa Kemal Pascha war der militärische Kopf, der den Sieg herbeiführte. 1923 wurden im Frieden von Lausanne die Grenzen der heutigen Türkei festgeschrieben. Rund 1,5 Mio. Griechen mussten Kleinasien verlassen – viele zogen nach Thessaloniki; schätzungsweise 400 000 Türken wurden aus Griechenland ausgewiesen.
Mustafa Kemal Pascha wurde 1923 der erste Präsident der Republik. Nach den Erfahrungen mit der osmanischen Rückständigkeit reformierte er das Land rabiat und radikal, nach westlichem Vorbild: Die neue Verfassung schuf die Grundlage für einen weltlichen, demokratischen Nationalstaat mit getrennten Gewalten. Das Kalifat wurde abgeschafft, der Sitz der Regierung nach Ankara verlegt. Kemal ersetzte die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet. Die Frauen erhielten 1934 das Wahlrecht – anderswo dauerte das länger.
Das Paket, das auch Reformen in Bildung, Wirtschaft und Justiz umfasste (die Scharia-Gerichtshöfe wurden abgeschafft; die Türkei übernahm das schweizerische Zivilgesetzbuch), wird als Kemalismus bezeichnet. Es überdauerte dessen Begründer, der 1938 starb, ist heute jedoch in Gefahr. Atatürk, Typ eleganter Salonlöwe, litt an Leberzirrhose: Der charismatische «Vater der Türken» (sein Ehrenname ab 1934) trank kräftig Raki, rauchte viel, schlief wenig.
Am 16. April wird das türkische Volk darüber abstimmen, ob es das Amt des Staatschefs erheblich stärken will, zugunsten von Präsident Erdogan. Der nicht säuft und pafft, dafür aber inbrünstiger betet als der eher agnostische Atatürk. Der jedoch – ein schlechtes Zeichen – keinen Sinn hat für Humor und Ironie. Der sich in Ankara einen Palast hat hinklotzen lassen, dessen Monstrosität und Kitsch Bände spricht. Der im aufreibenden Dienst am Vaterland materiell nicht gerade darbt, wie’s scheint.
Atatürk war kein Heiliger. Er hinterliess eine brüchige Schöpfung, ein halbfertiges Haus. Seine Modernisierung erfasste das Land nicht in der Tiefe, so wie auch Zar Peter der Grosse Russland nicht ganz nach Westen hatte wenden können. Mehrmals putschte das Militär, just um den Kemalismus zu retten. Der letzte, dilettantische Versuch im Juli 2016 war der Sargnagel im Machtanspruch des Offizierskorps. Und womöglich der Republik Atatürks obendrein. Falls Erdogan eine Mehrheit erhält.
Hat Ihnen der Artikel gefallen? Lösen Sie für 4 Wochen ein FuW-Testabo und lesen Sie auf www.fuw.ch Artikel, die nur unseren Abonnenten zugänglich sind.